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 24. Juni 2003
Graf Battistello von Luang Prabang
der achte  Brief

Meine Liebe Freundin Claire

Auf dem Kamin liegen ihre Briefe, die lange unbeantwortet blieben. Ich will mich nicht entschuldigen und ich will mich auch nicht erklären. Mich hinter allzu flüchtigen Entschuldigungen verstecken.
Ich spürte meine Wurzeln nicht mehr. Doch nun zu diesem so lange überfälligen Brief an sie, meine liebe Freundin. Ich beginne mit den zwei Sätzen die mir am wichtigsten erscheinen, von all den Gedanken, die mir gerade im Kopf herum schwirren. Möge der Anfang ein Beginn der Ordnung sein.

Ich will Verstehen. Ich will Denken.
Zwei schlichte Sätze, die nur scheinbar gegensätzlich wirken.
Seit dem ich nicht mehr darauf angewiesen war, dass mir jemand etwas vorliest, oder dass das Fernsehen mir Geschichten erzählt, lese ich selbst. Unzählige Bücher habe ich bis Heute gelesen. Viele haben mir nur eine Geschichte erzählt, mich unterhalten, in eine andere Welt geführt. Doch am spannendsten war es immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, jemand anders denkt in meinem Kopf. Das war nicht immer angenehm!
Es gab Zeiten in denen ich nur schwer Schlaf finden konnte, weil mein Kopf Bandwurm-Sätze produzierte, ohne Ende und ohne Sinn.
Es war beängstigend, weil ich es nicht abstellen konnte.
Heute weiß ich, dass dies Tage waren, an denen ich zuviel gelesen hatte.
Mir ist bewusst geworden, dass manche Bücher zu lesen, tatsächlich bedeutet, dem/der AutorIn zu erlauben, in meinem Kopf zu denken. Ich begann mit einem Bleistift in der Hand zu lesen. Alles was wir wichtig erschien unterstrich ich. Als Kind habe ich diese Zitate in kleinen Vokabelheften gesammelt. Ich besitze sie noch Heute und bedaure sehr, dass ich niemals die Quelle dazu schrieb.
Ich staune über die Sätze, die dem Kind, dass ich einst war, so wichtig waren, dass es sie aufschrieb und ich erinnere mich, dass dieses Kind das ich war oft Stunden damit zugebracht hat. Welch eine Energie, Verschwendung war es nie.
Sicher gibt es Sätze die ich Heute nicht mehr so wichtig finde und befremdet wieder finde.
Doch bei den Meisten ist es nicht der Fall. Dieses Kind war ein kluger, aufmerksamer Leser, der nicht nur danach trachtet zu Verstehen, sondern auch dachte.
Liebe Claire, ihr könnt euch sicher vorstellen, wie wichtig diese Hefte für mich sind. Ich begegne einem Teil dessen, der ich war und der nicht auf den vielen Familienfotos verewigt ist. Dieser kleine, blasse Junge, im Matrosenanzug, hat weit weniger mit dem Kind zu tun, als diese Hefte es haben. Hier offenbart sich mir, der kleine Mensch in seinem Denken. Ich schrieb keine Tagebücher, in jenen Kinderjahren, doch diese Zitate sind mir Tagebuch und Foto. Hier finde ich den Jungen wieder, nach dem ich in den letzten Wochen so stark gesucht hatte.
Ich erwähnte bereits, dass mir die Wurzeln abhanden gekommen waren, so wie Anderen eine Sonnenbrille, oder eine Geldbörse. Ich war auf der Suche und hatte doch keinen Wegweiser, ja ich wusste nicht einmal wonach ich suchte.
Erst als auf einen langen, wirren Brief meinerseits, an meine Mutter, ein Packet in meinem Berliner Haus eintraf, begann ich zu ahnen, dass dies mehr ist als eine kleine liebevolle Aufmerksamkeit sei. Ich verschwand für Tage in diesen kleinen blauen und grünen Vokabelheften. Ich vergaß zu essen, die Bedeutung der Stunden waren mir fremd geworden. Fragen, weitere Briefe an meine geehrte Frau Mutter. Unzählige Stunden, die ich mit Warten zubrachte. Dabei hatte ich doch alles vor mir. Alles was ich über mich wissen musste, hatte ich selbst, in ungelenkiger Schrift, nieder geschrieben.
Ich ging wie durch einen wirren Dschungel, denn ich wusste nicht was wichtig ist.
Wieder hatte ich angefangen Vokabelhefte zu füllen, die mir Gustav eiligst besorgen musste. Ich übersetzte die Zitate in Kinderschrift, zu solchen die dem Mann der ich geworden war, noch wichtig sind, in Zitate die diesen Mann erreichen können.
So verbrachte ich weitere zahllose Tage.
Ich merkte nicht wie Gustav sich Sorgen um mich machte, nicht wie die Briefe von Freunden sich ungelesen auf dem Kamin stapelten. Nicht das die Türglocke ging, nicht das Gustav die Anrufe, leise aber bestimmt, abwimmelte.
Ich war so sehr damit beschäftigt, dieses Kind, dass ich einst war zu übersetzten, anstatt ihm zu lauschen.
Liebe Claire, glauben sie nicht das dies ganz vergeblich war. Dies alles war nötig um die Vorurteile abzubauen. Vor allem Eines, nämlich dieses: Ein Kind weiß nichts vom Leben.
Ich habe diesem kleinen Jungen lange misstraut, schien er mir doch all zu einfälltig. All zu leicht zu täuschen! Die Erwachsenen hatten ihn getäuscht, ihn mit der Wahrheit verschonen wollen. Die Grausamkeit des Krieges war seinen Augen verborgen. Die Lücken, die durch die plötzliche Abwesenheit von Tanten und Onkeln, entstanden waren, füllten sich mit Teddybären und Reisen in ferne Länder.
Es ist ihnen nicht gelungen, der Weg den dieses Kind zu den Büchern nahm, war nicht vergebens und ich vertraue dem Kind wieder und ich fühle meine Wurzeln.
Ich bin der, der ich war und noch mehr.

Ich sehe den Kindern beim Spielen zu und möchte sie bestürmen zu lesen und aufzuschreiben, damit diese Worte ihnen zur Hilfe kommen können, wenn sie wie ich, ihre Wurzeln nicht mehr spüren können. Ihre Wurzeln die in ihnen selbst liegen.
Traurig unterlasse ich dies, wäre ich doch nur ein wirrer alter Mann, spräche ich so zu ihnen!
Mit der Erkenntnis zu altern, damit hatte alles angefangen.
Liebe Claire, ich meine nicht das Wissen darum, dass wir altern, ich meine das Alter zu spüren, die ersten Anzeichen im Spiegel zu sehen. Dabei hatte ich die Wurzeln verloren!

Liebe Claire, ich umarme sie und bin wieder ganz. Geeint in Verstehen und Denken.
Mit aller größter Hochachtung

Ihr Freund Graf Battistello von Luang Prabang




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Graf Battistello von Luang Prabang schreibt seit 2002, seine nachdenklichen Briefe an Claire.
Die meiste Zeit lebt er in Berlin, in einer großzügigen Stadtvilla.
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