Montagsnotizbuch 

22. September 2003

Wenn wir Glück haben, dann wächst in einer Schmerzfurche, ein Samenkorn heran, dass geschieht nicht oft, denn meist sind wir dumpf und benommen in unserem Schmerz.
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15. September 2003

Mit jedem Brief offenbart sich ein Stück Persönlichkeit. Was uns wiederfahren ist und was wir dabei empfanden. Auch wagen wir in unseren vertraulichsten Briefen über Träume und Wünsche zu sprechen. Geben Geheimnisse preis.
In dem wir schreiben, halten wir den Augenblick fest und legen Zeugnis ab. Schreibend konservieren wir einen Teil Ich. Eines Tages werden meine Briefe mir helfen mich zu erinnern.
Briefe schreibend befinden wir uns in ausgesuchter Gesellschaft und führen eine Jahrhunderte alte Tradition fort, ohne dass es uns bewusst wird. Wir schreiben über die Gegenwart hinaus, mit Mitteln die Zeit und Fortschritt uns in die Hände gaben.
Immer noch, sind es die Hände mit denen wir schreiben, die uns helfen unsere Gedanken zu fixieren und sichtbar zu machen. So strampeln wir uns frei, von den Ereignissen, die ungefragt auf uns einstürmen, halten fest, was uns wichtig erscheint.
Schreibend treffen wir immer eine Wahl.
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08. September 2003

„Sie sprach und sprach, und sprach am Frühstückstisch über der Zeitung
hing ihr Mund und ihre Stimme wurde kleiner und entfernte sich mehr und mehr -
als die Stimmen in mir sich erhoben und sie überbrüllten: Wieso wagst du es,
hörte ich sie rascheln, du kannst nicht entkommen, niemals. Ich schlug
auf den Tisch und schrie STOP! Du hast keine Macht, du bist nichts, du kennst nicht
die Geschichte von dem Engel, der den Kindern den Finger auf den Mund legt
bevor sie zur Welt rutschen, durch den engen Schlund und wie eine Kerbe sich bildet
über den Lippen, zum Zeichen, dass sie vergessen, kennst du die nicht? Ich
hab's gründlich vergessen, was ich hier soll ich weiss es nicht mehr, hörst du?
Darum lebe ich schneller um zurückzukehren, um zu fragen, was das hier soll,
was das Leben hier soll? Was das alles hier soll!“
von Sylvia Hagenbach, für den Tagebau

Ja! Lasst uns Fragezeichen setzen, dicke fette.
Und lasst uns die Fragen nicht vergessen!
Wir leben und wir tragen jene Kerbe in der Oberlippe.
Eine Kerbe, vielleicht ein Zeichen.
Vor diesem Text, gehörte sie einfach zu meinem Mund, eine Herausforderung, für den Lippenstift – mit Schwung. Doch jetzt sehe ich sie anderes, weil mir Sylvias Text dazu einfällt. Ihre Interpretation lässt mich schmunzeln, lässt mich nachdenken.
So sind gute Texte, sie lassen mich nicht ganz los.
Sternenstaub.
Doch das klingt zu platt.
Die Sprache kann auch ein Skalpell sein.
Wehe, denen die sie versuchen, doch wir können nicht anders: Wir fragen!
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01.September 2003

Hunderttausende Menschen haben schon heute ihre sozialen Kontakte hauptsächlich im Cyperspace – nicht weil sie den Unterschied zwischen Realität und Virtualität nicht sähen, sondern weil sie es so gewählt haben. Viele finden dadurch überhaupt erst Anschluss. Aber es ist oft ein Anschluss im Wortsinn: ein Leben das seinen Sinn verliert, wenn man den Stecker zieht. Über dieses Phänomen werden die Soziologen in den nächsten Jahren zu brüten haben.
Christoph Dröser, in einem Zeitartikel: Die Gedanken sind frei.
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25. August 2003

Die Inselbegabungen fast aller Savants (Autisten mit besonderer Fähigkeit) liegen im mathematischen- abstrakten, musikalischen oder zeichnerischen Bereich, lauter Fähigkeiten also, die von der rechten Hirnhemisphäre gesteuert werden. Führende Neurobiologen gehen daher davon aus, dass die rechte Gehirnhälfte bei Savants Defizite im Bereich der linken Hirnhälfte kompensiert. Man vermutet, dass in vielen Fällen deine Testosteron-Vergiftung während der Embryonalentwicklung der Grund sein könnte: Die Entwicklung der linken Gehirnhälfte dauert in der Regel länger als diejenige der rechten.
Sie wird während dieser hochsensiblen Phase daher länger vorgeburtlichen Einflüssen ausgesetzt. Im männlichen Fötus kann das zirkulierende Hormon Testosteron die neuronale Funktionsweise der linken Hemisphäre schwächen. Und aus diesem Grund würde die rechte Gehirnhälfte bei Männern als Kompensation oft größer ausgebildet und dominant.
Zitiert aus dem Zeitartikel: Das geheime Wissen der Erbsenzähler von Till Hein.
Link zum Artikel:[...]
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18. August 2003

„I always say,
keep a diary and some day
it`ll keep you.
Mae West (1892 – 1980)
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11. August 2003

I never travel without my diary.
One should always have something
Sensational to read
in the rain.
Oscar Wilde (1854 – 1900)
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Montag, den 14. Juli 2003

Der Soldat und das Mädchen
... oder eine Liebe die in den weiten des Internet beginnt, in dem es viele Räume gibt, zum Beispiel Chatt Räume

Alles ist möglich in einem Chatt-Raum, und vieles ist fraglich.
Versteckt sich hinter einem Nick-Namen, eine Frau oder ein Mann. Das Spiel der Geschlechter, in ein anderes Geschlecht schlüpfen? Warum nicht!
Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!
Bin ich eine Frau. Bin ich ein Mann. Bin ich zwölf oder neunzehn Jahre alt. Bin ich reich und kultiviert, hier muss man schon ein wenig mehr Hausaufgaben machen um als gebildet zu gelten. Glaube ich, denn meine Chatt-Erfahrung hält sich in Grenzen, meist war ich platt, wie platt es dabei zugeht. Doch das nur am Rande.
Immer wieder liest man, dass sich Menschen im Chatt gefunden haben, gar ein Liebespaar wurden und geheiratet haben. Diese „Erfolgsgeschichten“ tragen nicht unerheblich dazu bei, dass es in den Chatts recht belebt zu geht. Auch wenn man nicht gleich heiraten will, so möchte man doch einen Partner zum Reden finden, der einen versteht und der dazu beitragen kann das das WWW zum Abenteurspielplatz wird.
In der Theorie ist man rund um die Uhr erreichbar!
„E-Mail für dich“, in diesem Film geht es genau darum. Ich finde ihn weniger wegen der Geschichte bemerkenswert, dass hatten wir schon, wenn auch in vielreicher Gestalt.
Im Film geht es um das neue Medium Internet, E-Mail, dass macht diesen Film für mich interessant.
Was aber ist mit dem Soldaten und dem Mädchen?
Nun diese Geschichte ist schnell erzählt.
Ein amerikanischer Soldat chattete und mailte ein Jahr mit einer jungen Frau aus England, wie er annahm, tatsächlich ist vermeintliche Frau jedoch zwölf Jahre. Seine erste Frau ist an Krebs gestorben und der Mann war wohl einsam,. Wer will es ihm verdenken?
Nach einem Jahr wollte er seine Chatt-Freundin in England besuchen und stellte fest das sie 12 Jahre und nicht 19 ist, wie sie ihm geschrieben hatte.
Nun beginnt der Kriminalfall: Warum ist er nicht zurück nach Amerika, als ihm das tatsächliche Alter des Mädchens klar wurde? Warum floh er trotzdem mit dem Mädchen nach Paris, wo sich ihre Spur verliert.
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Montag, den 7. Juli 2003

Über die alten Orte wissen wir schon alles. Seit Jahrhunderten werden sie von zahllosen Touristen aufgesucht, abgelichtet, Reise-Tagebuch verewigt.
Neue Monumente, wenn auch vergänglicher Art ziehen uns, in den Nordwesten der USA, nach Seattle. (Vielleicht nicht gerade „uns“, aber viele andere.)
Orginaldrehorte sind dort zu besichtigen.
Spielt es denn eine Rolle ob hier, Friedrich der Große wandelte; ein Bogen aus Stein, in einer Nacht erbaut,  für die Kurfürstin Elisabeth zu Heidelberg; das Kolosseum Schauplatz grausamer Kämpfe war, oder, ob hier die Schauspielerin X lebte in ihrer hervorragenden Rolle als Frau Y; Michael Dougles als Tom Sanders im Film-Firmengebäude der DigiCom täglich ein und aus ging; vielleicht mag der moderne Reisende aber auch lieber das Hausboot von „Sam“ (Tom Hanks), auf dem Union Lake, besuchen.

Film schafft keine Geschichte, Film erzählt eine Geschichte. Den doppelten Schein besuchen? Mir ist es lieber wirkliche Ereignisse von denen wirkliche Bauten noch Zeugnis ablegen zu besuchen, als das umgekehrte Fixierbild eines Films, wo der wirkliche Ort zum fiktiven Ort wird.
Das Leben im Spiegel des Spiegels, stellvertretend für wirkliche Emotionen und wirkliche Geschichte, die Filme, der in Seatle ganz unbeabsichtigt einen Touristenort geschaffen haben, Seattle wird dies zu nutzen wissen.
Mich beschäftigt diese Tatsache allerdings auf eine ganz andere Weise, sie beunruhigt mich und ich fühle mich schon fast verraten an ein authentisches Leben, dass ich wirklich und wahrhaftig selbst leben muss, Szene für Szene.

Anmerkung: Vor wenigen Tagen starb der Buschmann N!xau. Am Dienstag war er zum Holzsuchen aufgebrochen und nicht mehr zurück gekommen. In "Die Götter müssen verrückt sein" (Teil eins 1980, Teil zwei 1989) spielte er den vermeintlich primitiven Buschmann Xi.
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Montag, den 30. Juni 2003

Lauter Ungewissheiten bestimmen die Gedanken und Handlungen. Eine Entscheidung führt mich in eine ganz bestimmte Richtung, jedoch kann ich nicht wissen was daraus wird, wenn ich das Eine tue und das Andere lasse. Es gibt selten die Möglichkeit beides auszuprobieren. Eine Entscheidung ist immer auch eine Entscheidung für eine Richtung und gegen eine andere, ein zurück gibt es selten.
Rückblickend erkenne ich oft, dass gewisse Begegnungen meine Entscheidungen immer wieder beeinflusst haben und die Frage: Wo wäre ich heute, wenn ich diese oder jene nicht getroffen hätte?, ist eine akrobatische Gedankenübung, die mich fliegen und fallen lässt und mich am Ende lächelnd und nachdenklich zurück lässt.
Müde von all dem auf und ab. Müde vom Wiedersehen mit so vielen Menschen.
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Montag, den 23. Juni 2003

Einen guten Gedanken, den wir gelesen, etwas Auffallendes, das wir gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden. Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versäumnis wiedergutzumachen.
[Goethe: Die Wahlverwandschaften, Aus Ottiliens Tagebuche]

Gedanken sind flüchtig und umtriebig, wie junge Hunde, die im Spiel kein Ziel zu kennen scheinen. Sie aufzubewahren ist das Ziel all derer die Schreiben. Hinter all diesen Bemühungen mag die drängende Frage lauern; Wer bin ich? Wenn ich mein Tagebuch, die Briefe die ich schrieb, wieder vor Augen führe und sie lese, dann begegne ich mir selbst auf eine Weise, die ein Spiegel nicht herbei führen kann. In ihm sehe ich nur die Hülle, bestenfalls einfache Zustände, wie Müdigkeit, Fröhlichkeit, oder den Tintenklecks auf meiner rechten Wange.
Meine Worte wieder lesend, komme ich mir selbst schon näher. Ein Tagebuch wird oft erst dann interessant, wenn es eine Weile ungelesen, in einer Schublade lag, oder wie in meinem Falle, in einer Holzkiste, die ich mir extra für meine Tagebücher habe anfertigen lassen.
Wenn ich dann nach einem Jahr, oder noch mehr, ein Tagebuch wieder aufschlage und zu lesen beginne, dann ist es ein wenig so, als sei ich bei mir selbst zu Besuch. Ein gern gesehener Gast, dem ich zuhöre und mit dem ich einen guten Wein teile.
Lesend erinnere ich mich, an Dinge die ich im Täglichen schon vergessen hatte, an Gedanken die so flüchtig waren, wie jene Hunde, von denen am Anfang die Rede war. Mit blauem Kulistrich fixiert, nahm ich ihnen die Flüchtigkeit und ich erkenne sie wieder, manchmal erstaunt und überrascht.Selten die Abende die ich auf diese Weise verbringe, aber immer ganz besondere Abende.
Ich kann es nicht lassen und nehme mir vor wieder mehr Tagebuch zu schreiben.
Ähnlich geht es mir mit den Briefen meiner Freunde und Freundinnen, die ich zu mir hole, wenn ich sie reden hören möchte!
Ganz besondere Abende eben, wie seltene, seltsam stille Feste.
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Montag, den 16. Juni 2003

Die Tatsache, das er (sie, du) heute existiert, beweißt, dass es sich bei seiner genetischen Ausstattung um ein Erfolgsmodell handelt. Seine Gene haben eine Zeit von 4 Milliarden in unterbrochener Generationenfolge hinter sich. Kein einziger seiner tierischen und menschlich  direkten Vorfahren ist in dieser Zeit gefressen worden, wurde von einer Krankheit dahin gerafft oder ist von einem Baum gefallen, bevor er sich fortpflanzen konnte.
Zitat aus einem Zeit-Artikel von Jobst Meyer

Dieses Zitat habe ich mir zwischen den Jahren 1997 und 98 in mein Tagebuch geschrieben. Es kommt mir immer wieder in den Sinn und hat an Faszination nichts eingebüßt, sich nicht abgenutzt durch die ständige gedankliche Wiederholung. Das ich heute lebe verdanke ich dieser Tatsache, die mir ohne Jobst Meyer so nie in den Sinn gekommen wäre.
Betrachte ich mein Sein unter diesem Gesichtspunkt, geht wenig verloren und ich fühle mich reich und verwandt mit allen Menschen.
Ich trage Wurzeln in mir, von denen ich nichts weiß. Wurzeln die so weit reichen, wie der Mond von der Erde entfernt ist, bis zu den Sternen, die in klaren Nächten mir beides zu sein scheinen, unerreichbar und ganz nah.
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Montag, den 9. Juni 2003

Die Welt ist ein Kindergarten und daran wird sich auch im Jahre 2030, höchstwahrscheinlich nichts ändern.
Weißt du warum?
Ich weiß es auch nicht aber ich vermute: Weil soviel jeden Tag auf uns einstürmt, an einem ganz normalen Montag zum Beispiel und weil wir uns ganz schnell entscheiden müssen, was wichtig und unwichtig ist. Wenn wir alles auf einmal aufnehmen und gleich wichtig werten, dann führt das in ein Chaos. Wissen wir denn was unser Gedächtnis aufhebt, mit welchen Gerüchen verbunden, welchen Bildern?
Ich glaube wir wissen es nicht. Die Selektierung findet ohne unseren hoch gepriesenen Intellekt statt.
Und doch kommen wir nicht umhin Bilder, Wörter aufzunehmen, wenn wir lebendig bleiben wollen. Und doch kommen wir nicht umhin, unsere eigenen Bilder und Wörter zu schaffen, aus dem was uns begegnet. Täglich, stündlich, in einer Minute.
Reagieren, agieren, die Bremse treten, oder Gas geben.
Einblick in ein Montagsnotizbuch, dass zusammenfasst was lose war und zufällig.
Und siehe – es geht.
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Das Montagsnotizbuch ist ein neues Projekt im Salon im Net, dem Online-Projekt von Ilona Duerkop.

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