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Salon im Net, den 10. November 2004
ein Online Projekt von Ilona Duerkop

Ada Diekmann
schreibt wöchentlich für den Salon im Net. Letzte Kolumne
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Ilona Duerkop zu Besuch in Deutschland

Ich bedanke mich für die freundliche Genehmigung, von Philip Boll, seinen Artikel im Salon im Net, abbilden zu dürfen. Danke auch an Frau Viebrock, die den Kontakt hergestellt hat.


Die Physik der Gesellschaft
Soziophysiker beschreiben Städte, Wirtschaftssysteme oder Wählergruppen
mit mathematisch formulierten Gesetzen. Daraus entsteht eine Wissenschaft,
die uns in Zukunft bei politischen Entscheidungen helfen könnte

Von Philip Ball

Mit einiger Herablassung, ja gewissem Schrecken blickt unser Zeitalter des Individualismus, in dem Eigenverantwortung und Wahlfreiheit Schlagworte der Politik geworden sind, auf Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, denen zufolge die Gesellschaft von objektiv wirkenden Gesetzmäßigkeiten regiert wird. Die Idee, dass wir nicht nur juristischen, sondern auch irgendwie natürlichen Gesetzen unterliegen, hat für uns Heutige den Beigeschmack sozialer Kontrolle, ja des Totalitären, und wir sind geneigt, darauf so zu antworten wie Dostojewskijs Einzelner in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Sollte jemals eine Formel entdeckt werden, die unser Wollen und Trachten auszudrücken vermag dann wird der Mensch aufhören, einen eigenen Willen zu haben mehr noch, er wird aufgehört haben, zu existieren.

Doch trotz dieser individualistischen Haltung scheint man sich in der Öffentlichkeit stark dafür zu interessieren, ob sich der Lauf der Dinge vorhersagen lässt, ob ihm also bestimmte Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, deren Extrapolation einen Blick in die Zukunft der Gesellschaft erlaubt. Es sieht sogar so aus, als ob das Publikum inmitten all seiner Freiheiten und Optionen ein wenig Determinismus durchaus zu schätzen wüsste. Die Schlüsselfrage lautet freilich: Existieren derartige Gesetze des menschlichen Handelns überhaupt? Gibt es Aspekte der Gesellschaft, die einem Muster folgen und damit Gesetzmäßigkeiten, artverwandt denen der Physik, welche die unbelebte Natur regieren? Hatte John Stuart Mill mit seiner Behauptung Recht, es gebe Ereignisse, die ihrer Natur nach launenhaftig und ungewiss erscheinen und die, betrachtet man den Einzelfall, durch keinerlei irgendwie erreichbaren Grad des Vorwissens vorhersagbar werden und die dennoch, zieht man eine größere Anzahl in Betracht, mit einem Grad von Regelmäßigkeit auftreten, der an das Mathematische streift

Ob es einem gefällt oder nicht: Es scheint mittlerweile unanfechtbar zu sein, dass solche Ereignisse vorkommen und damit auch mathematisch zu fassende Gesetze des Gesellschaftlichen. Das sind Gesetze, die nicht etwa irgendjemand verabschiedet hat. Vielmehr entstehen sie unaufgefordert aus dem Sumpf der Einzelheiten. Und in vielerlei Fällen können wir ihnen einfach nicht entkommen. Denn wie verschiedenartig und eigensinnig wir als Individuen auch sein mögen, en masse verhalten wir uns nicht viel anders als eine immense Ansammlung fühlloser Moleküle. Unser Zusammenwirken wird von Kräften bestimmt, die uns organisieren, und dabei entstehen stabile Verhaltensmuster: kollektive Zustände.

Es lohnt sich, nach ihnen zu suchen. Denn sie können uns etwas über die Umstände mitteilen, unter denen wir versuchen, Gesellschaften zu errichten. Ich glaube auch nicht, dass wir diese Gesetze des Gesellschaftlichen zu fürchten haben; sie können vielmehr nützlich sein und unsere Handlungsfähigkeit sogar erweitern. Wenn uns beispielsweise ein Politiker weismachen will, etwas bewirken zu können, das nach unserem Wissen diesen Gesetzmäßigkeiten widerspricht, dann können wir ihn als Fantasten oder falschen Propheten entlarven. Und andererseits, wenn wir diese spontan wirkenden Gesetze kennen, dann können wir auch deren Formbarkeit erproben, anstatt die Versicherung der Verfechter des Status quo hinzunehmen, die Dinge müssten eben so liegen, wie sie sind.

Inzwischen lässt sich beispielsweise die Behauptung testen, eine vollständig unregulierte Ökonomie sei in perfekter Weise effizient, wogegen Handelsbeschränkungen sämtlich nur Schaden anrichteten. Im Gegensatz dazu zeigen Experimente mit Modellen, die den Kapitalismus beschreiben, dass ein solches Wirtschaftssystem in mehrfacher Hinsicht ineffizient und reparaturanfällig wäre. Mit derartigen formalen Methoden können wir also, kurz gesagt, das Unvermeidliche von dem unterscheiden, was sich ändern lässt. Damit ist natürlich nichts darüber ausgesagt, was das Anzustrebende sei; doch eine Kartierung der gesellschaftlichen Zwänge sollte helfen, die Wege zu den erstrebten Zielen zu erkunden.

Nehmen wir beispielsweise das Wachstum der Städte. Schon seit Jahrzehnten ist Demografen bekannt, dass Städte mathematischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Die Zahl der Städte einer bestimmten Größe ist mit ebendieser Größe durch eine so genannte inverse geometrische Progression verbunden, Physiker würden von einem Potenzgesetz sprechen. Es ist sehr einfach: Die Zahl der Städte einer Größe S ist annähernd proportional zu 1/S (oder eben S-1). So gibt es, weltweit gezählt, ungefähr 20000 Städte mit mehr als 10000 Einwohnern, 2000 mit mehr als 100000 und 200 mit mehr als einer Million Einwohnern. Anders ausgedrückt: Erhöht man die Einwohnerzahl einer Stadt um den Faktor zehn, dann verringert sich die Anzahl der Städte dieser Größe um den gleichen Faktor.

Ähnliches gilt im Lokalmaßstab. Greifen wir irgendeine Großstadt wie London oder Berlin heraus, und zählen wir, wie viele Satellitenstädte unterschiedlicher Größenklassen sie hat: Wieder findet sich ein Potenzgesetz. Es gibt auch eines für den Wachstumsprozess der Städte. Interessant, dass in jeder dieser Städte ein anderes Planungssystem geherrscht haben mag und dass sich dennoch die universellen Gesetze des Wachstums durchsetzten.

Diese ungeplante und unausweichliche Stadtphysik führt keineswegs notwendigerweise in die Unordnung. Städte können beispielsweise bemerkenswert gut darin sein, Güter aller Art an den richtigen Ort zu transportieren oder die Landnutzungen effizient zu verteilen. Der amerikanische Ökonom Herbert Simon berichtet von dem Erstaunen und ungläubigen Kopfschütteln seiner Architekturstudenten, als er ihnen erklärte, wie wenig das effiziente Design mittelalterlicher Städte auf zentrale Planung und wie sehr es auf Myriaden individueller menschlicher Entscheidungen zurückzuführen ist. Oft wurde damals allenfalls über den Verlauf der Stadtmauer und den Standort der Kathedrale bewusst entschieden; andere Raumstrukturen wie das Straßennetz oder ein gut erreichbarer Marktplatz hingegen bildeten sich im Lauf der Zeit ganz von alleine heraus. Nach dem großen Brand von London im Jahre 1666 entwarf der Mathematiker und Architekt Christopher Wren einen grandiosen Plan für den Neuaufbau der jedoch ging spontan und so schnell vonstatten, dass kein Planer hinterherkam. Wie so oft in der so genannten Sozialen Physik fand eine Art Gruppenintelligenz die Lösung, ganz ohne Blaupause nicht anders als Ameisenstaaten, deren Strategien der Nahrungssuche hoch effizient und dennoch ungeplant sind.

Das alles ist nicht zwingend ein Argument für eine Politik des Laissez-faire. Selbstorganisierende Systeme können nämlich von der Geschichte oder auch rein zufällig in suboptimale Zustände gesogen und eingepfercht werden. Außerdem muss der selbst organisierte Zustand ja keineswegs ein gerechter oder moralisch wünschenswerter sein. Zum Beispiel scheint es so zu sein, dass das Aufkommen des Handels in einer Gesellschaft zwangsläufig zu größerer Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums führt was uns aber nicht daran hindern sollte, zu fragen, ob wir an dieser Distribution nicht ein wenig herumdoktern und die Güter etwas gleichmäßiger verteilen sollten.

Wohin sie auch blicken, Sozialwissenschaftler und Physiker finden statistische Potenzgesetze allerorten. Darauf hatte erstmals der amerikanische Soziologe George Kingsley Zipf hingewiesen, freilich konnte er nicht erklären, was diese Gesetze bedeuten. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Physiker gelernt, derartige Gesetze als Signatur von Systemen zu lesen, in denen viele Komponenten stark miteinander interagieren im Gegensatz zu solchen Systemen, deren Komponenten sich zufallsgesteuert und unabhängig voneinander verändern, was ein ganz anderes statistisches Bild ergibt. Auch in den Sozialwissenschaften ist das Auftreten eines Potenzgesetzes ein Zeichen enger Interaktion. Ein Beispiel sind Wahlergebnisse, deren räumliche Verteilung nicht selten einem Potenzgesetz folgen woraus sich ablesen lässt, dass Menschen ihre Wahlentscheidung nicht jeder für sich treffen, sondern in intensiver wechselseitiger Interaktion.

In der Physik sind Systeme, die Potenzgesetze aufweisen, häufiger Schwankungen unterworfen als solche, deren Statistik eine Zufallsverteilung abbildet. In eng gekoppelten Systemen können kleine Ursachen große Wirkungen zeitigen, und es kommt zu erdrutschartigen Veränderungen. Sollte diese Beobachtung auch auf Abstimmungen in Demokratien zutreffen, dann müsste uns der Einfluss parteiischer Medien oder die in einigen Ländern doch sehr unterschiedlich gefüllten Wahlkampfkassen vielleicht mehr Sorgen bereiten als bisher.

Im Geschäftsleben sind Potenzgesetze die Normalität. Die Verteilung amerikanischer Firmen unterschiedlicher Größenklassen zum Beispiel vom Einmannbetrieb bis zum Mammutkonzern folgt einem solchen Gesetz. Zwar ist bis heute unter Ökonomen umstritten geblieben, welche Faktoren das Wachstum einer Firma bestimmen, doch jedes Modell ist mit Sicherheit fehlerhaft, das diese Potenzverteilung nicht reproduzieren kann. Die Implikation liegt auf der Hand: Dem Firmenwachstum liegen Interdependenzen zugrunde, und es genügt eben nicht, die Geschichte einer Firma nur aus ihrer mehr oder weniger zufälligen Wechselwirkung mit der ökonomischen Umwelt zu erklären. Das spiegelt sich ebenso in der Statistik der untergehenden Unternehmen wider; die Zahl der Firmen, die den Markt verlassen, ist nämlich gleichfalls mit ihrer Größe durch ein Potenzgesetz verknüpft. Auch wenn es natürlich stimmt, dass jede Firma heruntergewirtschaftet werden kann etwa durch eine Folge schlechter Entscheidungen, erscheint es doch im Allgemeinen angebrachter, die Geschäftswelt als ein komplexes Ökosystem zu betrachten, das sich mathematisch beschreiben lässt. Es ist übrigens für Anstoßeffekte hoch empfindlich; die Statistik des Firmensterbens weist jedenfalls dasselbe Muster auf wie diejenige des Artensterbens: Es kommt zu Episoden, in deren Verlauf große Gruppen lebender Organismen untergehen.

Zahlen zeigen niemals alles. Sozialforscher, die dem hier beschriebenen, aus der Physik stammenden Ansatz folgen, gehen deshalb dazu über, mit Modellen des Sozialverhaltens zu experimentieren, in denen Populationen so genannter Agenten miteinander nach wohldefinierten Regeln zusammenwirken. Die Erforschung des automatenhaften Verhaltens dieser Agenten impliziert nicht etwa die Leugnung des freien Willens, spiegelt aber die Überlegung wider, dass unsere Entscheidungen in vielen sozialen Situationen sehr begrenzt und dem Einfluss anderer unterworfen sind. Diese so genannten agent based models könnten jedenfalls jene Gesetzmäßigkeiten aufdecken helfen, die dem Verhalten von Menschenmassen zugrunde liegen. Sie versprechen auch prognostische Kraft: nichts Prophetisches natürlich, wohl aber die Fähigkeit, das wahrscheinliche Durchschnittsergebnis zu schätzen, das sich aus bestimmten Anfangsbedingungen und Regeln ergibt. Und im besten Fall könnten sie uns helfen, schlechte Entscheidungen zu vermeiden.

Ad acta dürfen wir allemal den Spruch legen, demzufolge es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt das die Gesellschaft also nichts anderes sei als die Summe des Verhaltens voneinander isolierter Individuen. Es gibt vielmehr Muster des Massenverhaltens, die nicht als Extrapolationen individueller Aktionen verstanden werden können: Die Gesellschaft ist jener Ort, an dem wir zusammenwirken.

Der britische Chemiker und Physiker Philip Ball arbeitete zehn Jahre lang als Wissenschaftsredakteur des Journals nature, dem er bis heute beratend zur Seite steht. Sein soeben erschienenes Buch Critical Mass (Heinemann, 41,47 Euro) befasst sich mit der Physik der Gesellschaft.
Übersetzung aus dem Englischen: Gero von Randow

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