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Salon im Net, den
02. Oktober 2004
ein Online Projekt
von Ilona Duerkop
Zweiter Tag
Wie man auf finsteren Wegen ins Aedificium gelangt, einen mysteriösen Besucher entdeckt und eine Geheimbotschaft
mit nekromantischen Zeichen findet, während ein Buch, kaum richtig gefunden, wieder verschwindet, um viele weitere Kapitel
hindurch verschwunden zu bleiben, fast so lange wie Williams gleichfalls entwendete kostbare Augengläser.
Wir traten in die dritte Seitenkapelle. Der Sockel des steinernen Altars gemahnte wirklich an ein Ossarium, eine Reihe von
Totenschädeln mit leeren Augenhöhlen ließen den Betrachter erschauern. Unter den Schädeln häuften sich, in wunderbarem
Relief aus dem Stein gehauen, zahllose Gebebeine. William wiederholte leise die Worte, der er von Alinardus vernommen
(vierter Schädel von rechts, drück in die Augen…(, führte zwei gespreizte Finger in die tiefen Augenhöhlen des entsprechenden
Totenkopfes, und sogleich ertönte ein dumpfes Knirschen. Der Altar bewegte sich. Langsam drehte er sich um einen verborgenen
Zapfen und gab eine dunkle Öffnung frei. Im Schein der Lampe erkannten wir feuchte Stufen. Wir stiegen behutsam hinunter, nachdem
wir uns kurz beraten hatten, ob wir den Eingang hinter uns schließen sollten. Lieber nicht, hatte William gemeint, denn wer weiß, ob
wir ihn hinterher wieder öffnen könnten. Und dass uns jemand zufällig entdecken würde, sein wohl auszuschließen, denn wer um diese
Zeit hierher käme, kenne gewiss den Mechanismus und werde sich nicht von einem geschlossen Eingang abhalten lassen.
Nacht
Wir stiegen erneut zum Skriptorium hinauf, diesmal über die breite Treppe im Ostturm, die uns auch weiter hinauf zum verbotenen Oberstock
führte. Während ich die Lampe hoch vor uns hertrug, dachte ich an die Worte des greisen Alinardus über das Labyrinth und machte mich auf
Entsetzliches gefasst.
Die geheimnisvolle Bibliothek
Der Name der Rose
von Umberto Eco
Ein Auszug
Eine wunderbare Führung durch eine mittelalterlichen Bibliothek
Komplet
Nach zehn bis zwölf Stufen gelangten wir in einen schmalen Gang, in dessen Seitenwänden sich waagerechte Nischen auftaten, wie ich
sie später in vielen Katakomben sah. Doch es war das erste Mal, dass ich ein Ossarium betrat, und mir pochte das Herz bis zum Hals
vor Schauder. Die Gebeine zahlloser Mönche waren im Lauf der Jahrhunderte hier versammelt worden, aus der Erde gegraben und aufgehäuft
in den Nischen, ohne dass man versucht hätte, sie gemäß ihrer natürlichen Ordnung im Körper zu legen. Einige Nischen enthielten nur winzige
Knochen, andere nur Schädel, säuberlich zu Pyramiden gestapelt. Wahrlich ein schreckenerregender Anblick, zumal im flackernden
Wechselspiel von Schatten und Licht, das meine Lampe hervorrief, während wir uns Schritt für Schritt durch den Gang vorantasteten.
In einer Nische sah man nur Hände, unzählige Knochenhände, die Finger unentwirrbar verschränkt zu einem reglosen Totenreigen.
Ein Schrei entfuhr mir, als ich plötzlich zwischen all diesen Gebeinen etwas Lebendiges wahrzunehmen vermeinte, ein Pfeifen und
rasches Huschen im Dunkel.
„Mäuse“, sagte William beruhigend.
„Was tun denn hier Mäuse?“
„Sie laufen durch, genau wie wir. Der Gang führt ins Aedificium, mithin in die Küche. Und zu den schönen Büchern in der Bibliothek.
Doch nun verstehst du vielleicht auch, warum Malachias immer so finster dreinblickt. Sein Amt zwingt ihn, zweimal täglich hier durchzugehen,
abends und morgens. Er hat wirklich nichts zu lachen…“
„Warum steht eigentlich nirgendwo im Evangelium, dass Christus gelacht hat“, fragte ich ohne vernünftigen Grund.
„Ist es wirklich so, wie Jorge sagt?“
„Viele Leute haben sich schon gefragt, ob Christus gelacht hat. Ich finde die Frage gar nicht so interessant. Ich glaube, dass Christus
nie gelacht hat, weil er in seiner Allwissenheit sicher schon wusste, was wir Christen alles anstellen würden… Aber schau, wir sind da.“
In der Tat, der Gang war zu Ende, (Gott sei Dank.) Wir erklommen erneut eine Reihe von Stufen, drückten oben eine schmale, mit
Eisenbändern beschlagene Holztüre auf und fanden uns hinter dem großen Kamin in der Küche, genau unter der Wendeltreppe, die
zum Skriptorium führte. Als wir sie hinaufstiegen, schien uns plötzlich, als hörten wir über uns ein Geräusch.
Wir verharrten einen Moment lang reglos, dann sagte ich: „Unmöglich! Niemand ist vor uns hier eingedrungen…“
„Vorausgesetzt, dies hier ist der einzige heimliche Zugang“, flüsterte William. „In früheren Jahrhunderten war da Aedificium eine Felsenburg,
es gibt hier wahrscheinlich mehr Geheimgänge, als wir wissen. Gehen wir vorsichtig weiter, es bleibt uns gar keine andere Wahl. Wenn wir
das Licht löschen, sehen wir nichts, und wenn wir es brennen lassen, sieht uns der Unbekannte, falls sich dort oben einer befindet. Unsere einzige
Hoffnung ist, dass er mehr Angst vor uns hat als wir vor ihm.“
Wir traten aus dem Südturm und waren im Skriptorium.
…
Worin man endlich ins Labyrinth eindringt, sonderbare Visionen hat und sich wie es in Labyrinthen vorkommt, verirrt.
Überrascht stellte ich fest, als wir an den geheimnisumwitterten Ort gelangten, dass wir uns in einem nicht sehr großen fensterlosen Raum
mit sieben Wänden befanden, in dem – wie übrigens im gesamten Oberstock – eine muffige, abgestandene Luft herrschte. Nichts, wovor
man sich entsetzen musste.
Der Raum, hatte wie gesagt, sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die
Mauer eingelassenen Säulen, über wölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich
aufgereihter Bände. Jeder Schrank trug ein Schild mit einer Zahl, desgleichen jedes einzelne Bord – offensichtlich die gleichen Zahlen,
die ich im Katalog hinter den einzelnen Buchtiteln gesehen hatte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, gleichfalls voller Bücher.
Auf allen Bänden lag eine feine Staubschicht, ein Zeichen dafür, dass sie in regelmäßigen Abständen gereinigt wurden, Auch auf dem Boden
lag keinerlei Unrat. Über einem der Türbögen las ich eine gemalte Inschrift: Apocalypsis Jesu Christi.
Sie wirkte nicht verblasst, obwohl die Lettern sehr altertümlich aussahen. Später, als wir in den anderen Räumen ähnliche Inschriften fanden,
bemerkten wir, dass sie in Wahrheit eingraviert waren, sogar recht tief in den Stein geschnitten und dann ausgemalt mit einer Farbe, wie man
sie für die Fresken auf Kirchenwänden benutzt.
Wir schritten durch einen der Türbögen und gelangten in einen annähernd rechteckigen Raum. Die Wand vor uns hatte ein Fenster, dessen
Scheiben jedoch nicht aus Glas, sondern aus hauchdünn geschliffenem Alabaster waren. Links führte uns ein Türbogen von der gleichen Art,
wie wir ihn soeben durchschritten hatten, in einen weiteren Raum, der ebenfall vier Wände hatte, eine davon wieder mit einem Fenster und eine
mit einem weiteren Durchgang. Beide Räume trugen ähnliche Inschriften über dem Türbogen wie der erste, nur dass die Texte anders lauteten:
der eine hieß Super thronos viginti quatuor (auf den Thronen vierundzwanzig), der andere Nomen illi mors (des Namen heiß Tod). Ansonsten
waren die Räume zwar kleiner (und wie gesagt nicht sieben-, sondern viereckig), aber genauso möbliert wie der erste: Schränke voller Bücher
und in der Mitte ein Tisch.
Wir gingen weiter in den nächsten Raum. Er war leer und trug keine Inschrift. Unter dem Fenster stand ein kleiner Altar aus Stein. Hier gab es
drei Türen; durch die eine waren wir gekommen, die zweite öffnete sich zu dem siebeneckigen Innenraum, den wir schon kannten, die dritte führte
in einen neuen Raum, nicht unähnlich den bisherigen, aber mit der Inschrift Obscuratus est sol et aer (verdunkelt sind Sonne und Luft). Von ihm
aus gelangten wir zu einem fünftem rechteckigen Raum mit der Inschrift Facta est grando et ignis (es war en Hagel und Feuer). Hier gab es keine weitere Tür.
„Überlegen wir“, sagte William. „Fünf rechteckige oder leicht trapezförmige Zimmer, jedes mit einem Fenster, umgeben den siebeneckigen fensterlosen
Innenraum, in den die Treppe mündet. Das scheint mir elementar. Wir befinden uns im Ostturm. Jeder Eckturm des Aedificiums hat von außen gesehen
fünf Seiten, jede davon mit einem Fenster. Ja, die Sache ist klar. Das leere Zimmer geht genau nach Osten, in dieselbe Richtung wie der Chor der Kirche,
die Strahlen der Morgensonne fallen auf den Altar, wie es sich gehört und frommt.
Der einzige raffinierte Einfall ist die Sache mit den Alabasterscheiben:
Bei Tage filtern sie das grelle Sonnenlicht zu einem milden Schimmer, bei Nacht lassen sie nicht einmal das Mondlicht durchscheinen. Sehr labyrinthisch
ist die Anlage bisher nicht. Komm, lass uns sehen, wohin die anderen Türen aus dem Siebeneck führen. Ich denke, wir werden uns leicht zurechtfinden.“
Er irrte, die Erbauer der Bibliothek waren einfallsreicher gewesen, als er geglaubt hatte. Ich weiß nicht, wie es kam, aber als wir den Ostturm verließen,
wurde die Abfolge der ineinander gehenden Räume wirrer. Einige hatten zwei, andere drei Türbögen. Jeder hatte ein Fenster, auch wenn wir ihn aus einem
Raum mit Fenster betraten und meinten, es müsse im Innern des Aedificiums liegen.
In jedem fanden wir stets die gleiche Art von Bücherschränken und
Tischen, und die säuberlich aufgereihten Bände sahen allesamt gleich aus, was uns ein Wieder erkennen schon betretener Räume nicht gerade erleichterte.
Wir versuchten, uns an den Inschriften zu orientieren. Einmal hatten wir einen Raum durchquert, in welchem In diebus illis (in jenen Tagen) über der Tür stand,
und nach einiger Zeit war uns, als hätten wir ihn wieder erreicht. Doch dann fiel uns ein, dass beim ersten Mal die Tür gegenüber dem Fenster zu einem Raum
mit der Inschrift Primogenitus mortuorum (erstgeborener von den Toten) geführt hatte, und diesmal stand dort Apocalypsis Jesu Christi, aber es war nicht der
siebeneckige Treppenraum, in dem wir unsere Erkundigung begonnen hatten. Offenbar wiederholten sich manche Inschriften mehrmals. So fanden wir auch
zwei nahe benachbarte Räume, in denen beide Male Apocalypsis Jesu Christi stand, und gleich darauf folgte einer mit Cecidit de coelo stella magna
(es fiel ein großer Stern vom Himmel).
Woher diese kurzen Texte stammten, war klar, es handelte sich um Satzfragmente aus der Offenbarung Johannis. Keineswegs klar war indessen,
warum sie über den Türbögen standen und in welcher Ordnung sie auf die Räume verteilt waren. Unsere Verwirrung wuchs noch, als wir entdeckten,
dass einige Inschriften, nicht sehr viele, mit roter Farbe ausgemalt waren statt mit schwarzer.
Nach einer Weile gelangten wir plötzlich wieder in den siebeneckigen Innenraum (er war leicht wieder zu erkennen, da in ihm die Treppe aus dem
Skriptorium endete). So beschlossen wir, es mit der vierten Tür zu versuchen und möglichst geradlinig durch die Räume zu gehen. Wir durchquerten
drei Räume und standen im vierten vor einer Wand, der einzige Durchgang führte seitlich in einen Raum, der gleichfalls nur seitlich eine weitere Tür hatte.
Danach konnten wir vier weitere Räume geradewegs durchqueren, bis wir erneut vor einer Wand standen. Wir kehrten in das davor liegende Zimmer zurück,
in dem wir seitlich eine zweite Tür gesehen hatten, gelangten durch diese in ein neues Zimmer und fanden uns plötzlich wieder in dem siebeneckigen Treppenraum.
„Wie hieß das letzte Zimmer, durch das wir vorhin hierher zurückgekommen waren?“ fragte William.
Ich dachte angestrengt nach. „Equus albus (ein weißes Pferd), glaube ich.“
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