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Gewalt ist die Grenze, die mitten durch die Moderne
hindurchläuft, und sie bezeichnet jenen extremen Punkt, an dem Adornos
Denken die Gegenwart berührt.
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Adorno, das stimmt, ist kein Zeitgenosse mehr. Sein Werk ist aufgeklärt
worden mit dessen eigenen Mitteln, mit rückhaltloser Kritik. Nach
Adorno ist keine Autorität mehr anzuerkennen, nicht einmal die Adornos.
Heute verlieren sich die Spuren des Genies in den Seminaren, und
mit der Feier seines 100. Geburtstages geht philosophisch eine Epoche zu
Ende. Das Wunderkind kehrt ein in den Saal der Vergangenheit,
in die Galerie der Giganten Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger. Und Adorno.
Schon zehn Jahre nach seinem Tod waren Adornos Gedanken außerhalb
des universitären Sektors kaum mehr aufzufinden. Ihre
Wirkungsgeschichte brach plötzlich ab, aus dem öffentlichen Bewusstsein
verschwanden sie fast vollständig, während die Kampagnen, die
christkonservative Staatskanzleien und ihre angeschlossenen Publikationsorgane
gegen ihn veranstalteten, munter weiter liefen. Einer der
einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts blieb auf die intellektuellen
Milieus ohne größeren Einfluss. Der geniale Mann, dessen
Einsichten von einer Subtilität sein konnten, die noch heute den Leser
beschämt, fand keinen Nachfolger. Die Zeit schien über ihn
hinwegzugehen, nur in der (Musik)Ästhetik riss das Gespräch nie
ganz ab, wie das Echo auf Adornos nachgelassenes Beethoven-Buch und
seine Theorie der musikalischen Reproduktion gezeigt hat. Eine neue Kritik
an den „Pathologien des Kapitalismus“ sucht zarte
Querverbindungen zu Foucault; von Judith Butler stammt eine bewegende Neudeutung
seiner Ethik. Gerade haben einige Getreue ihn zum
Vordenker von Hardt und Negris Buch Empire ausgerufen, obwohl deren Selbsterlösungsträume
bei Adorno kaum anderes ausgelöst hätten
als blankes Entsetzen.
Alles andere an Adorno mutet umso fremder an. Nachtschwarz ragen einige
philosophische Ruinen in die Gegenwart. Nichts scheint mehr
von der Geschichte überholt zu sein als Adornos Sätze über
die Geschichte und die objektive Tendenz des Zeitalters. Schrecken verbreitet
das Mahlwerk seiner Methode. Gespenstisch klingen die Sentenzen zum Weltlauf,
sobald man sie aus dem Zusammenhang ihrer zeitlichen
Entstehung herauslöst und die Verzweiflung vergisst, der sie entsprungen
waren: „Die Welt ist ein System des Grauens.“ Oder noch so ein
Satz, wie in Stein gemeißelt: „Aufklärung schlägt um in
Mythos.“ Sie „verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen“.
Die Naturbeherrschung ist die Quelle allen Übels
Von solchen Großspekulationen ist heute nichts mehr übrig –
oder mit einem Adorno-Wort: weniger als nichts. Ihr „Zeitkern“ liegt offen
zutage. Was dennoch unbeschädigt überlebt hat, wurde vom Siegeszug
der analytischen Philosophie und der Abkühlung von
Wahrheitsfragen an den Rand gedrängt. Es war eine Befreiung, sich
von Adornos Philosophie zu befreien, und es war ein Leichtes, auch das
Schwierige abzuschütteln.
In dieser Kraterlandschaft den Ort der Freiheit ausfindig zu machen ist
nicht einfach. Denn wenn Naturbeherrschung und
Menschenbeherrschung unauflöslich ineinander verflochten sind, dann
greifen sie durch alle Verhältnisse hindurch, und es scheint nahezu
gleichgültig, welche politische Verfassung sich ein Gemeinwesen gibt.
Die Sphäre des Sozialen schrumpft zum Raum der Manipulation,
bevölkert mit Ich-schwachen Individuen, beherrscht von finsteren Mächten,
von Bürokratie und Kulturindustrie. In der Tat, das war sie,
Adornos „verwaltete Welt“ mit ihrem „ausgebombten“ Bewusstsein, das mit
Jazz, Reklame und Pop aufgefüllt wird bis ans Ende ihrer Tage.
Entsprechend begegnete Adorno, zurück aus dem amerikanischen Exil,
dessen Freiheit er bis zuletzt gegen alle „muffigen Ressentiments“
verteidigte, der deutschen Nachkriegsrealität mit äußerstem
Misstrauen, bis in die Fasern seiner Existenz unsicher, ob die neue Freiheit
sich nicht doch wieder als Teil jener uralten Naturbeherrschungsgeschichte enthüllt,
die im absoluten Grauen, in Auschwitz, zu sich gekommen
war.
Zum Beispiel in seiner Vorstellung von einer unverfügbaren „Natur“.
Adorno verstand darunter jenes unaufklärbare Substrat, das
menschlicher Praxis vorausliegt und doch beständig ihrem Zugriff unterliegt.
Wissenschaft und Technik setzen alles daran, ihren
Machtbereich auszuweiten, sogar auf den opaken Grund des „Lebendigen“,
also nicht nur auf die äußere, sondern auch auf die Natur des
Einzelnen.
Das scheint heute ganz selbstverständlich. Doch gerade
weil nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms die biologische
Natur ins Fadenkreuz gentechnischer Programmierung geraten ist, erhält
Adornos Versuch, Natur- und Menschenbeherrschung
zusammenzudenken, eine düstere Aktualität. Denn der Eingriff
in den unverfügbaren Rest des Lebendigen wird, wie inzwischen auch
Habermas fürchtet, das Verhältnis der Menschen untereinander
in Mitleidenschaft ziehen.
Die Gentechnik weitet den Interventionsbereich noch einmal aus und macht
es möglich, dass Menschen den Rest unbestimmter Natur nach
dem eigenen Ebenbild modellieren.
Das wäre für Adorno eine ungeheuerliche
Vorstellung gewesen, nachgerade die Selbstdemaskierung der
modernen, auf Unterwerfung zielenden „Rationalität“.
Für Adorno wäre die Folge klar gewesen. Wenn sogar die innere
Natur des Menschen ein technisch manipuliertes „Etwas“ ist, dann kommt
der Bildungsprozess der Gattung zum Erliegen – die Herrschaft des Wissens
über das „Lebendige“ ist total. In Adornos Augen wäre das
aber nicht ein Menetekel der Freiheit, sondern ein Zeichen andauernder
Unfreiheit, eine Deformation des „Geistes“. Deformiert ist der
menschliche Geist, weil er sich absolut setzt und nicht frei ist, seiner
Freiheit eine Grenze zu setzen. In ihm haust immer noch ein archaischer
Zwang. Die Moderne ist nie modern gewesen.
Noch befremdlicher klingt in zeitgenössischen Ohren das, was Adorno
als „Neutralisierung“ bezeichnet. Mit Neutralisierung ist das letzte
Kapitel seiner Negativen Dialektik überschrieben, und man sollte es
getrost als das lesen, was es ist: als Vermächtnis.
Auch das Kasperltheater, das der
italienische Regierungschef veranstaltet, ähnelt auf verblüffende
Weise dem, was Adorno der Demokratie prophezeit hat: nämlich die
mafiose Herrschaft aus Konzern und Clique. Berlusconi schafft sich ein
paar Fernsehsender an, bricht ihnen das Rückgrat und lässt sie
nach seiner Pfeife tanzen. Was ist das anderes als der berüchtigte „Verblendungszusammenhang“,
als kulturindustrielle „Neutralisierung“? So unverständlich es klingt:
Was er fürchtete wie kaum etwas sonst, das war die Neutralisierung
von Überlieferungen, in denen die ersten und letzten Fragen des
Menschen verhandelt werden. Adorno kritisiert die „bürgerliche Gesellschaft“
nicht nur, weil sie das Verhältnis der Menschen dem
Tauschprinzip unterwirft; er kritisiert sie, weil sie einen schier unmenschlichen
„Druck zur Anpassung“ ausübt und so verhindert, dass sich
dem Einzelnen ein Bewusstsein von den „letzten Dingen“ eröffnet, ein
Bewusstsein von Einsamkeit und Schuld, Krankheit und Tod.
Das sind erstaunliche Sätze, und es wäre der intellektuellen
Linken viel erspart geblieben, wenn sie ihren Spuren gefolgt wäre,
anstatt sie soziologisch zu verwischen.
Der Tod, das war der
Fels, an dem jede Utopie, jede kritische Theorie scheitern muss. Keine
gesellschaftliche Besserung sei denkbar, die an den Skandal des
Todes rührte oder ihn gar aus der Welt zu schaffen vermöchte.
Als der Soziologe Arnold Gehlen ihn einmal bestürzt fragte, ob er
das dem
Einzelnen wirklich alles aufbürden wolle, ganz ohne entlastende Institutionen,
meinte Adorno: „Ich habe eine Vorstellung von objektivem
Glück und objektiver Verzweiflung, und ich würde sagen, daß
die Menschen so lange, wie man sie entlastet und ihnen nicht die ganze
Verantwortung und Selbstbestimmung zumutet, daß so lange auch ihr
Glück in dieser Welt Schein ist.“
Adornos Ethik lässt sich nicht von der Kapitalismuskritik trennen
Mit diesem radikalen Verständnis von Metaphysik und Freiheit brachte
Adorno, der unvorstellbar Konservative, den real existierenden
Konservatismus zur Weißglut.
Für die Hellhörigen hieß
dies aber auch: Wer sich Traditionen, und das waren vor allem die ästhetischen,
nicht zuerst aneignet, hat kein Recht, sie zu kritisieren.
Durch Aneignung, also auch durch Kritik bleibt man an sie gebunden und
erkennt in ihnen ein vorgängiges Wahrheitsmoment, um es
„verwandelnd aufzubewahren“.
So harmlos er klingt, auch dieser Gedanke sprengt die Puppenstube der Konvention.
Adorno behauptet allen Ernstes, das Schicksal der
Gesellschaft hänge am seidenen Faden ihrer symbolischen Differenziertheit,
dem Reichtum ihrer Kunst, Überlieferung und Sprache. Alles
andere wäre leere Freiheit – die autistische Moderne hockt in der
selbst errichteten Höhle und bestaunt die Bilder, die sie sich selbst
an die Wand malt.
Es stimmt zwar, Adorno hatte einen Affekt gegen
das „positive Denken“, gegen jene Zwangskonformisten, die besinnungslos
ja zu dem sagen, was ohnehin der Fall ist. Für ihn war ein
Denken des Negativen produktiver, weil es der Reflexion Spielräume
eröffnet.
Andererseits, und daran sieht man die Schwierigkeiten, die
Adorno seinem Leser aufhalst, warnte er davor, das Negative zum Fetisch
zu machen, zur Pose des Intellektuellen, der in einer Art
Abschlagszahlung an die eigene Eitelkeit erst einmal nein sagt.
Adorno, das hat Martin Seel gezeigt, duldet keine Ausflucht und will verhindern,
dass wir uns auf das Negative herausreden, auf die
Gesellschaft, das „Unwahre“ oder den Verblendungszusammenhang. Wie bedrängend
die Welt auch sein mag, den Sinn für das richtige
Leben, den „Traum eines Daseins ohne Schande“, darf man sich nicht abhandeln
lassen.
Wer es dennoch tut, der spielt den Verhältnissen in
die Hände, ihrem alles durchdringenden Tauschprinzip, der „erkalteten
Lebendigkeit“ im „bürgerlichen Subjekt“. Die Zauberworte heißen Innehalten und Reflexion.
Das Falsche beginnt für ihn schon dort, wo man sich nichts anderes mehr vorstellt
als das Leben, das man gerade führt. Und dennoch wäre es ein Trugschluss, wenn man glaubte, Adornos Ethik
ließe sich von seiner Kritik an der kapitalistischen Ökonomie
einfach
abkoppeln. Tatsächlich ist sie unauflöslich mit der Vorstellung
von einer „richtigen“ Gesellschaft verbunden – einer Gesellschaft, die
ihren
Mitgliedern nicht länger eine Härte und ein soziales Leiden aufzwingt,
die, gemessen am sozioökonomischen Reichtum, überflüssig
sind. In
dieser geschichtlich längst möglichen Gesellschaft wäre
Kapitalismus keine Religion, keine Ökonomie der weltlichen Erlösung,
sondern
„gerechter Tausch“.
Es hat nur ein Vierteljahrhundert gedauert, und der Gegenwart scheint das
messianische Motiv, das in diesen Vorstellungen mitschwingt,
ganz und gar fremd geworden zu sein. Denn eine Gesellschaft, die von ihrer
inneren Gewalt erlöst ist, unterscheidet sich bei Adorno nur um
ein Winziges von der realen; in ihr wäre alles anders, und es bliebe
doch fast alles beim Alten.
Es sind solche Gedanken, in denen Adorno
das Bilderverbot bricht und sich vorstellt, wie das gelingende Leben beschaffen
sein könnte, eine Zivilisation ohne Schrecken, oder auf
unsere Gegenwart bezogen: eine Weltgesellschaft ohne Terror.
„Der versöhnte
Zustand hätte sein Glück daran, daß das Fremde in der
gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des
Heterogenen wie des Eigenen.“ In den Zeiten eines auftrumpfenden, in
sich verhärteten „Westens“, in denen intellektuelle Debatten sich
in der Frage „Kapitalismus oder Barbarei?“ auf ihren Tiefpunkt einpendeln,
hat dieser Satz etwas Surreales. Unter dem Druck der Tatsachen scheint
es undenkbar, ihn überhaupt zu denken. Aber er zeigt, welche
Frage hinter dem Veralteten in Adornos Werk hervortritt: das Problem der
Gewalt.
Gewalt ist die Grenze, die mitten durch die Moderne
hindurchläuft, und sie bezeichnet jenen extremen Punkt, an dem Adornos
Denken die Gegenwart berührt.
Und es war notwendig.
Niemand wird Adorno heute würdigen können,
ohne an dessen wundesten Punkt zu rühren: daran, dass er das
Freiheitsmoment der Demokratie auf absonderliche Weise unterschätzt
hat. Der Grund dafür lässt sich genau benennen. Adorno war von
dem Gedanken durchdrungen, die Unterwerfung der Natur und die Herrschaft
über Menschen seien dialektisch ineinander verwoben. Was
die Menschen der Natur antun, das tun sie sich selber an. An diesem Gedanken
hängt alles, er galt für ihn absolut und bezeichnet das
Herzstück seiner Philosophie. Adorno war überzeugt, dass sich
die Unterwerfung der Natur in den gesellschaftlichen Zwängen und
Herrschaftsverhältnissen reproduziert, und zwar in Formen unmerklicher
Gewalt, auch gegen das eigene Leben. In seinen sozialen
Verhältnissen überdauert das Subjekt nur, weil es seine Triebe
unterdrückt und sein Selbst verleugnet. Diese Herrschaft über
die äußere und innere Natur verwandelt die Gesellschaft in den Kampfplatz einer instrumentellen
Vernunft, die alles, auch den anderen Menschen, zum
Objekt erklärt. Vom homerischen Odysseus, der sich an den Mast fesselt,
um seine Leidenschaften ruhig zu stellen, bis zur Atombombe – in
allem zeigt sich derselbe Wahn, die eine Logik, der eine herrschaftliche
Geist im Prozess der Zivilisation.
Es war Jürgen Habermas, der in einer, man muss es so sagen: Fundamentalkritik
kristallklar gezeigt hat, dass Adornos Denken in eine
Sackgasse führt, in einen Selbstwiderspruch, der mit den Mitteln der
Philosophie nicht aufzulösen ist. Adorno, so schrieb er 1981 in seiner
Theorie des kommunikativen Handelns, könne die normativen Maßstäbe
seiner Kritik nicht ausweisen und ziehe sich selbst den Boden unter
den Füßen weg. Wie unter einem Brennglas ließ Habermas
den lebensphilosophischen Gehalt des Werks verdampfen. Er durchschlug den
dialektischen Knoten, mit dem Adorno die Herrschaft über die Natur
mit der Herrschaft über Menschen verknüpft hatte. Nun war Adorno
auch
in Frankfurt ein Bergmann ohne Licht. Wer wollte ihm noch folgen?
Doch wie es so ist mit Aufklärungen, sie sind notwendig und decken
auf, aber indem sie dies tun, decken sie anderes zu. Manchmal wird ihr
Gegenstand kleiner, bis er ganz aus dem Blick verschwindet und es gar nichts
mehr zu retten gibt. Vielleicht ist es heute sinnvoll, die
Engführung von Demokratietheorie und Philosophie zu lockern, andere
Schneisen zu schlagen und dort anzuknüpfen, wo Adorno den Wahn
der Moderne einkreist, ihre Grenzen und ihre Gewalt. Vielleicht ist er
nur noch dort verständlich, wo er uns heute am unverständlichsten
scheint.
Ihr blinder Wille,
alles Fremde und Unbestimmte beherrschen zu wollen, verschiebt
die Grenzen ins Ungeborene, in die Nichtidentität des Kindes.
Die Menschen würden sich nicht mehr als autonome Subjekte begegnen,
sondern als unlebendig lebendige Designerprodukte ihres Willens, eben als
Identisches.
Auf den ersten Blick handelt es sich um die notorische Klage über das Übel der kapitalistischen
Kulturindustrie und die Herrschaft der Reklame. Darüber müsste
man kein Wort verlieren, sind doch Adornos Schwarzmalereien in den medial
fortgeschrittenen Ländern längst Realität geworden. Wenn
in den neoliberal enthemmten Kampfgesellschaften die TV-Shows dazu übergehen,
sogar Arbeitslose dem Publikum zum Fraß hinzuwerfen,
übertrifft dies so ziemlich alles, was Adorno sich an sensorischer
Verrohung hatte vorstellen können.
„Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürften der ungeschmälerten
Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert
sind, leben sie unterm Schleier der Maja.“
Adorno, der hier ein materialistisches und
ein metaphysisches Motiv zusammenbringt, beurteilt eine richtige
Gesellschaft nämlich nicht nur danach, ob sie frei und gerecht ist;
er beurteilt sie nach dem Maß, inwieweit sie dem Einzelnen die Möglichkeit
gibt, sich zum „Dringlichsten“ zu verhalten – und das war für ihn
zuerst ein Bewusstsein vom „Unrecht des Todes“.
Radikal war dies, weil Adorno behauptete,
erst unter den Bedingungen der Moderne zeige sich, was von der
Metaphysik übrig geblieben sei. Und wenn etwas übrig geblieben
war, dann musste es durch das Nadelöhr der Reflexion, und nichts sollte
daraus unverwandelt hervorgehen, nachdem Auschwitz das Vertrauen in den
Sinn der Geschichte zerstört habe.
Damit müsste das Gerücht widerlegt sein, Adorno verharre im Negativen,
in der Schwermutshaltung einer pessimistischen Weltsicht, die
rundum nichts anderes erblickt als das Schwarz in Schwarz einer „absterbenden
Kultur“.
Die Minima Moralia, seine Reflexionen aus dem beschädigten Leben,
sind bekanntlich der Ort, an dem Adorno ein Denken erprobt, das
imstande ist, auch die eigenen Verneinungen zu verneinen. Die 1951 erschienene
Sammlung mit Denkstücken handelt nämlich nicht einfach
von dem „beschädigten Leben“, sondern davon, wie unter den Bedingungen,
die wir vorfinden, richtig zu leben wäre. Sie sind eine Ethik.
Auch hier, auf dem Feld des Ethischen, geht es nicht ohne Paradoxien ab.
Adornos Ideal des gelingenden Lebens mündet in die subjektive
Erfahrung von Freiheit – und gleichzeitig ist das, was er als Gelingen
beschreibt, an die Zurücknahme ebendieser Freiheit gebunden, an
Kontemplation und Gewährenlassen, überhaupt an ein passives Moment.
Adorno glaubte wirklich, die
Reflexion der Freiheit, die bloße Selbstbesinnung, reiche an das
heran, was dem „Endlichen entrückt“ wäre. Demnach hätte
die Freiheit ihre
Würde darin, Autonomie zu mäßigen und sich zu „öffnen“
für „Hingabe“ und „Liebe“ – für Adorno die einzige Leidenschaft,
der es nach dem
gnostischen Sturz in die Welt gelingt, die fassungslose Trauer und „kranke
Einsamkeit“ zu überwinden, „in der die ganze Natur befangen“
ist. „In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren
Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts.“
Allerdings, der Skandal der modernen Gewalt sprengt die Möglichkeiten
der Philosophie und verweist auf das Ästhetische. Für Adorno
bewahrt allein die Kunst ein bewusstloses Bewusstsein davon, wie der Gewalt
Einhalt zu gebieten sei. Sie nimmt alle „Dunkelheit und
Schuld der Welt auf sich“.
Als Adorno eines Abends Gäste hat, kommt es zwischen den Besuchern
zu einem Streit, der auch mit Marx- und Engelszungen nicht zu lösen
ist.
Adorno, der Anti-Tragiker schlechthin, steht auf, setzt sich ans Klavier
– und spielt.
© Thomas Assheuer
*Mein Dank gilt Thomas Assheuer und Ruth Viebrock, von DIE ZEIT, die den Kontakt hergestellt hat.