![]() Unsere Welt auf Reisen Die Ferien beginnen. Millionen ziehen in die Ferne. Aber das Fremde finden sie nicht mehr. Die Städte gleichen sich an, aus lokalen Bräuchen werden globale Trends. Alle Sehnsuchtsorte sind jederzeit erreichbar - der Tourismus hat die alten Utopien erledigt. von Boris Groys*
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Die Stadt
entstand ursprünglich als Zukunftsprojekt: Man zog vom Land in die
Stadt, um sich den alten Mächten der Natur zu entziehen und eine selbstbestimmte
Umwelt zu schaffen. Die ganze bisherige menschliche Geschichte ist durch
diese Bewegung vom Land in die Stadt bestimmt. Zwar wurde das Leben auf
dem Lande immer wieder als goldenes Zeitalter des «natürlichen»
Glücks stilisiert. Aber diese verschönerten Erinnerungen hinderten
die Menschen keineswegs, den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Die Stadt besitzt also eine utopische Dimension, weil sie sich jenseits
der natürlichen Ordnung situiert. Der Ort der Stadt ist der Utopos.
Früher markierten Stadtmauern den utopischen Charakter. Je utopischer
eine Stadt sein sollte, desto schwieriger musste es sein, sie zu betreten,
sei es das tibetische Lhasa, das himmlische Jerusalem oder das indische
Shambala.
Die Stadt
isolierte sich, um ihren eigenen Weg in die Zukunft zu gehen. Die genuine
Stadt ist also nicht nur utopisch, sondern auch anti-touristisch: Sie isoliert
sich vom Raum und bewegt sich in der Zeit. Der Kampf gegen die Natur hörte
freilich auch innerhalb der Stadt nie auf. Descartes stellt am Anfang seiner
Untersuchung über die Methode fest, dass die Städte, die historisch
gewachsen sind und sich deswegen der Irrationalität natürlicher
Ordnung nicht vollkommen entziehen konnten, eigentlich vollständig
niedergerissen werden sollten, um eine neue, vernünftige, vollkommene
Stadt aufzubauen. Später forderte Le Corbusier Ähnliches. Die
Utopie der vollständigen Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit
und Kontrollierbarkeit der städtischen Umwelt führte zur Entfaltung
einer historischen Dynamik, die sich im permanenten Umbau aller Bereiche
des städtischen Lebens manifestiert. So ist die Stadt zum Ort der
Revolutionen, der ständigen Neuanfänge, der flüchtigen
Moden geworden. Als geschützter Ort der Sicherheit gebaut, wurde die
Stadt zur Bühne der Kriminalität, der Unsicherheit, der Anarchie,
des Terrorismus. So präsentiert sich die Stadt als eine Mischung aus
Utopie und Dystopie, wobei die Moderne zweifelsohne mehr das Dystopische
als das Utopische an der Stadt schätzt und liebt - die Dekadenz, die
Gefahr,das Unheimliche.
Es ist
die Stadt, wie sie zum Beispiel in Blade Runner oder in den Terminator-Filmen
dargestellt wird, in denen ständig gesprengt und verbrannt wird, weil
immer neu für das Kommende, für das Zukünftige Platz geschaffen
werden soll - aber immer wieder die Ankunft des Zukünftigen verhindert
und verschoben wird, weil die Reste des schon Gebauten sich nicht vollständig
abtragen lassen und so die Vorbereitung nie zum Abschluss kommt. Wenn es
in unseren Städten überhaupt etwas Dauerhaftes gibt, dann diese
ständige Vorbereitung zur Schaffung von etwas Dauerhaftem, eine ständige
Verschiebung der endgültigen Lösung, ein ständiges Umbauen,
eine dauerhafte Reparatur.
Durch uns Touristen wird das Vorläufige zum EwigenAllerdings wurde dieser utopische Impuls in der Moderne schwächer und schwächer - und allmählich von der Faszination des Tourismus abgelöst. Wenn wir heute mit dem Lebensangebot unserer eigenen Stadt nicht mehr zufrieden sind, dann versuchen wir nicht, diese Stadt zu ändern, sondern fahren einfach in eine andere Stadt, um dort zu finden, was wir bei uns vermissen.
Wo wir auch hinkommen - wir sehen VertrautesDas ist der Grund der Klage, dass sich die Städte zunehmend ähneln. Dieser Eindruck
Das Lokale verschwindet nicht; vielmehr wird es global. Die Unterschiede
zwischen
den Städten werden zu innerstädtischen Unterschieden. Es entsteht
eine globale
Weltstadt, die das globale Dorf ersetzt. Sie reproduziert alles Lokale,
das in einer
bestimmten Stadt entsteht, in allen anderen Städten der Welt. So werden
sich die
Städte ähnlich, ohne dass eine bestimmte Stadt für die anderen
als Modell dienen
würde. Wenn in New York eine neue Variante von Rap-Music auftaucht,
beeinflusst sie
sogleich auch den Klangraum anderer Städte.
Vor allem aber verbringen Künstler und Intellektuelle ihre meiste
Zeit auf Durchreise
- von einer Ausstellung zur anderen, von einem Projekt zum anderen, von
einem
Vortrag zum anderen, von einem lokalen kulturellen Kontext zum anderen.
Von
jedem einzelnen aktiven Teilnehmer der Kulturszene wird erwartet, dass
er seine
Produktion einer globalen Öffentlichkeit anbietet. Damit sind sowohl
Hoffnungen als
auch Ängste verbunden. Zunächst einmal bietet sich dem Künstler
die Möglichkeit,
dem Druck eines lokal herrschenden Geschmacks auf relativ schmerzlose Weise
zu
entgehen. Er kann nach Gleichgesinnten überall auf der Welt suchen,
statt zu
versuchen, sich dem Geschmack und den kulturellen Orientierungen seiner
unmittelbaren Umgebung anzupassen. Damit ist übrigens auch der Zustand
einer
gewissen Entpolitisierung der heutigen Kunst zu erklären, der so oft
beklagt wird. Der
Künstler von früher, der kein Verständnis für sein
Werk innerhalb seiner lokalen
Kultur finden konnte, projizierte seine Hoffnungen vor allem auf die Zukunft
- auf
politische Veränderungen, die einen neuen, zukünftigen Betrachter
ins Leben rufen
sollten. Heute hat der utopische Impuls seine Richtung gewechselt: Man
sucht nach
Anerkennung nicht in der Zeit, sondern im Raum. Die Globalisierung hat
die Zukunft
als Ort der Utopie abgelöst. Statt einer avantgardistischen Politik
der Zukunft
praktiziert man heute eine Politik des Nomadentums, die eine utopische
Dimension
wieder einführt, die in den Zeiten des romantischen Tourismus verloren
schien.
Das bedeutet: Als Reisende beobachten wir heute nicht so sehr unterschiedliche
lokale Kontexte, sondern vielmehr andere Reisende im Kontext einer globalen,
permanenten Reise, die mit dem Leben in der Weltstadt identisch geworden
ist. Auch
die städtische Architektur beginnt schneller zu reisen als ihre Betrachter.
Sie ist fast
immer schon da, wo die Touristen erst noch ankommen müssen. Es ärgert
diese,
dass sie überall auf die gleiche Architektur treffen, doch gleichzeitig
beobachten und
bewundern sie, wie erfolgreich sich eine bestimmte Architektur in unterschiedlichen
kulturellen Kontexten durchsetzt. Wir sind heute bereit, vor allem diejenigen
künstlerischen Strategien reizvoll und überzeugend zu finden,
die imstande sind, sich
weltweit und unter den unterschiedlichsten Bedingungen der Wahrnehmung
gleichermassen gut zu behaupten.
Was uns fasziniert, sind gerade nicht die lokal bedingten Differenzen und
kulturellen
Identitäten, sondern die künstlerischen Formen, die ihre eigene
Identität und
Integrität überall durchsetzen können. Da wir alle Touristen
geworden sind und somit
nur andere Touristen beobachten können, bewundern wir bei allen Dingen,
Bräuchen
und Verfahren vor allem ihre Fähigkeit zur Verbreitung, Selbsterhaltung,
zum
Überleben unter unterschiedlichsten lokalen Bedingungen.
Die Strategien des postromantischen Tourismus lösen die alten Strategien
der Utopie
und Aufklärung ab. Überkommene Architektur- und Kunststile, politische
Vorurteile,
religiöse Mythen und traditionelle Bräuche sind nicht mehr dazu
da, um im Namen
des Universalen überwunden, sondern um touristisch reproduziert zu
werden. Die
heutige Weltstadt ist homogen, ohne universal zu sein. Früher glaubte
man, dass
man erst universal denken und schaffen könne, wenn man fähig
wäre, seine eigene
Tradition im Namen des Universalen und Allgemeingültigen zu transzendieren.
Deswegen war die Utopie der radikalen Avantgarde reduktionistisch: Zunächst
einmal
wollte man zu einer reinen, elementaren Form kommen, die alles Historische
und
Lokale abstreift, um dann für diese Form eine universale, globale
Geltung zu
beanspruchen. So ist die Kunst des klassischen Modernismus verfahren -
erst die
Reduktion auf das Wesentliche, dann die weltweite Verbreitung.
Die heutige Kunst und Architektur verbreitet sich dagegen global, ohne
eine solche
Reduktion auf das Wesentliche und Allgemeingültige zu vollziehen.
Die Möglichkeiten
der globalen Verbreitung haben die traditionelle Forderung nach Universalität
der
Form oder des Inhalts obsolet gemacht. Die Universalität des Denkens
wird durch die
Universalität der medialen Verbreitung eines jeden lokalen Gedankenguts
ersetzt.
Die Universalität der künstlerischen Form wird durch die globale
Reproduktion einer
jeden lokalen Form ersetzt. Als Folge wird der heutige Betrachter ständig
mit der
gleichen urbanen Umgebung konfrontiert, ohne dass man zugleich sagen könnte,
dass die formale Beschaffenheit dieser Umgebung in irgendeinem Sinne «universal»
wäre.
In den Zeiten der Postmoderne wurde die Architektur, die in der Nachfolge
des
Bauhauses praktiziert wurde, als eine monotone und reduktionistische kritisiert
- als
eine Architektur, die alle lokalen Identitäten einebnet und auslöscht.
Heute verbreitet
sich aber jeder lokale Stil genauso global, wie früher sich allein
der internationale Stil
verbreitet hat. So entsteht Homogenität ohne Universalität -
eine wirklich neue,
genuin gegenwärtige Entwicklung. Wir haben es im Kontext des totalen
Tourismus
erneut mit einer Utopie zu tun, aber mit einer, die sich von der statischen
Utopie der
Stadt radikal unterscheidet. Sie grenzte sich vom umgebenden Land ab. Heute
leben
wir in einer Weltstadt, in der Wohnen und Reisen identisch geworden sind
- und der
Unterschied zwischen Bewohnern und Besuchern nicht mehr wahrnehmbar ist.
Die
Utopie der ständigen globalen Bewegung hat somit die Utopie der ewigen
universalen
Ordnung abgelöst. So hat sich auch die dystopische Dimension der Utopie
geändert -
terroristische Zellen und neue Drogen reproduzieren sich in allen Städten
wie
Prada-Boutiquen.
Interessanterweise haben schon einige radikale Utopisten der russischen
Avantgarde
Anfang des letzten Jahrhunderts Projekte für Städte entworfen,
in denen alle
Wohnungen und Häuser sowohl gleichförmig als auch beweglich sein
sollten. Der
Dichter Welimir Chlebnikow wollte alle Bewohner Russlands in bewohnbaren
gläsernen
Zellen auf Rädern unterbringen, damit sie überallhin fahren und
alles sehen - und
zugleich auch ungehindert gesehen werden können. Der Tourist und der
Stadtbewohner werden identisch. Kasimir Malewitsch hat das Projekt von
Chlebnikow
insofern weitergeführt, als er suggerierte, jeden Menschen in ein
individuelles
kosmisches Schiff zu setzen, sodass er ständig im Kosmos schweben
und von einem
Planeten zum anderen fliegen kann. Der Mensch wird hier zum ewigen Touristen,
der
dadurch selber - isoliert in seiner individuellen und stets mit sich identischen
Zelle -
zu einem Monument wird.
Die Erde wird zum Raumschiff, Bleiben und Reisen sind einsDas ist eine Vision, die auch dem Raumschiff Enterprise zugrunde liegt, das zu einem
© (2003)Boris Groys
Boris
Groys ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Gestaltung
Karlsruhe.
Sein jüngstes Buch heisst «Politik der Unsterblichkeit»
(Hanser)
* Mein Dank
gilt Ruth Viebrock, Mitarbeiterin der Zeit, die bei Boris Groys die Erlaubnis
eingeholt hat, seinen Artikel im Salon zu veröffentlichen.
Mein Dank gilt auch Boris Groys, der die Erlaubnis gab.