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 5. September 2002

Der Brief aus der Heimat

Sie saß am Fensterrand im Morgenlicht,
und starrte in das aufgeschlagene Buch,
die Zeilen zählte sie und wußt´ es nicht.
ach weithin, weithin der Gedanken Flug!
Was sind so ängstlich ihre nächt´gen Träume?
Was scheint die Sonne durch so öde Räume?
- Auch heut kam kein Brief, auch heute nicht.

Seit Wochen weckte sie der Lampe Schein,
hat bebend an der Stiege sie gelauscht;
Wenn plötzlich am Gemäuer knackt der Schrein,
ein Fensterladen auf im im Winde rauscht, -
es kömmt, es naht, die Sorgen sind geendet:
Sie hat gefragt, sie hat sich abgewendet,
und schloß sich dann in ihrer Kammer ein.

Kein Lebenszeichen von der liebsten Hand,
von jener, die sie sorglich hat gelenkt,
als sie zum ersten Mal zu festem Stand
die zarten Kinderfüßchen hat gesenkt;
Versprengter Tropfen in dem fremden Lande;
Die Tage schleichen hin, die Woche schwand.

Was ihre rege Phantasie geweckt?
Ach, eine Leiche sah die Heimat schon,
seit sie den unbedachten Fuß gestreckt
auf fremden Grund und hörte fremden Ton;
Sie küßte scheidend jung und frische Wangen,
die jetzt von tiefer Grabesnacht umfangen;
Ist´s Wunder, daß sie tödlich aufgeschreckt?

In Träumen steigt das Krankenbett empor,
und Züge daämmern, wie in halber Nacht;
Wer ist´s? - sie weiß es nicht und spannt das Ohr,
sie horcht mit ihrer ganzen Seele Macht;
dann fährt sie plötzlich auf beim Windesrauschen,
und glaubt dem matten Stöhnen noch zu lauschen,
und kann erst spät begreifen daß sie wacht.

Doch sieh, dort fliegt sie übern glatten Flur,
ihr aufgelöstes Haar umfließt sie rund,
und zitternd ruft sie, mit des Weinens Spur:
"Ein Brief, ein Brief, die Mutter ist gesund!"
Und ihre Tränen stürzen wie zwei Quellen,
die übervoll aus ihren Ufern schwellen;
Ach, eine Mutter hat man einmal nur!

Annette von Droste-Hülshoff: Gedichte, Ausgabe 1844
(   1797  -   1848  )

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