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 1. Februar 2002
Nachwuchs/Schreibabys

 Die Zeit     Dossier  Nr. 50  2001

Was? Deiner robbt schon?
Babys sollen schön, klug, nett und musikalisch sein. Und wehe, nicht - dann gerät eine Welt ins Wanken. Über Wunschbilder und andere Hindernisse junger Eltern  von Iris Mainka

Warum in aller Welt hat sie sich das angetan? Niemand hat sie gezwungen, niemand hat sie überredet. Sie wollte es so, und wie sich das anfühlt, was dabei herauskam, kann jeder sehen an diesem trüben Morgen im Park: Schwer bepackt schiebt sie den Kinderwagen, ihr Zweijähriger rattert auf dem angeschraubten Trittbrett mit. Der Junge nörgelt, das Baby im Wagen ist still. Doch nur, weil es schläft. Gleich ist die halbe Stunde um, sie kann die Uhr danach stellen, gleich wird es aufwachen und wieder schreien wie am Spieß. Vielleicht 30 Jahre alt ist die Mutter, und sie sieht erschöpft aus. Ihr Blick geht ins Leere, diese Nächte sind schlimm, die vielen Nächte mit wenig Schlaf. Und sie hat es so gewollt. Machen Kinder tatsächlich glücklich?

Was für eine Frage! Tausende Paare stellen sie sich täglich. Sie wenden Beobachtetes, Erzähltes, Gelesenes über Kinder und Eltern immer wieder in ihrem Kopf. Sie wägen ab, horchen in sich hinein, versuchen das Risiko einer Familienplanung auf Mark oder Euro zu berechnen. Denn mit dem Entschluss, Eltern zu werden, treffen sie die folgenreichste Entscheidung ihres Lebens. Nehmen fortan einen chaotischen Alltag und Jahre ohne Feierabend in Kauf. Machen Kinder eigentlich glücklich(er)?

Früher stellte sich die Frage nicht. Jedenfalls nicht so. Da ging aus dem Zusammenleben von Mann und Frau über kurz oder lang ein Kind hervor, willkommen oder unerwünscht, jedenfalls selbstverständlich. Nachwuchs kam als Naturereignis, das sich weder planen noch steuern ließ. Man hatte sie halt, die Kleinen, und man war ihnen wenig schuldig, außer sie am Leben zu erhalten, so gut es ging. Letztlich lag ihr Geschick in Gottes Hand. Und wenn es Gott gefiel, nahm er die Kindlein wieder zu sich, wie er sie gegeben hatte. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts starb jedes vierte Baby im Laufe seines ersten Lebensjahres - Unglück, Erlösung, Zufall, unvermeidlich.

Heute gibt es große Säuglingssterblichkeit nur noch in Ländern der Dritten Welt. Der Glaube an die Macht des Schicksals ist hierzulande beinahe abgeschafft. Statt von Gottes Fügung sprechen wir von der Verfügungsgewalt eines Paares, Eltern zu werden - oder eben nicht. Weltweit gilt die paradoxe Regel: Je mehr Wohlstand, desto weniger Bevölkerungszuwachs, und das Wissen um sichere Verhütungsmittel kann dabei nicht die Hauptrolle spielen. Denn die Regel galt bereits, als von der Pille noch keine Rede war. Als soziale Alterssicherung und als künftige Arbeitskräfte sind Kinder in den Industriestaaten jahrzehntelang aus dem Blick geraten, obwohl auch staatliche Rentensysteme ohne Nachwuchs nicht funktionieren können. Und der wird immer weniger. Waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mehr als vier, so werden inzwischen in Deutschland im statistischen Durchschnitt nur noch 1,3 Kinder pro Familie geboren.

Damit nimmt ein Prozess seinen Lauf, den man auch als Folge des Gesetzes von Angebot und Nachfrage beschreiben könnte. Je weniger Kinder es gibt, umso bedeutsamer wird die Nachfrage nach dem einzelnen, wächst die Sorge um sein Wohlergehen, sein Gelingen, sein Lebensglück.

Das klingt nicht überraschend, ja sogar wünschenswert. Doch die psychischen Auswirkungen, mögliche Kosten dieser Entwicklung, dringen erst langsam ins Bewusstsein. Wo ein Kind zum Objekt von Für und Wider, von Rechnung und Gegenrechnung wird, wo sich sein Nutzen nur noch im emotionalen Gewinn für die Eltern bemisst, verliert es als nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil moderner "Bastelbiografien" (der Soziologe Ulrich Beck) auch ein großes Stück Unabhängigkeit vom elterlichen Planen und Wünschen. Es wird eingepasst in ihren Lebenslauf.

Natürlich war es schon immer so, dass Eltern in ihren Nachwuchs die schönsten Hoffnungen setzten. Aber wer sich bewusst für ein Kind entscheiden muss, wer täglich konfrontiert ist auch mit den Einschränkungen, der wird die Richtigkeit seines Entschlusses von Zeit zu Zeit überdenken, wird kritisch fragen: Läuft alles so, wie ich es wollte? Auch deshalb stehen Kinder heute fortwährend auf dem Prüfstand, möchten Eltern verbissener als je zuvor alles richtig machen; schließlich haben Psychologen und Pädagogen vor allem ihnen in den vergangenen Jahrzehnten die Verantwortung zugeschrieben - für den Erziehungserfolg und lieber noch für den -misserfolg. Und das Gefühl individuellen Versagens lauert stets im Hinterkopf, wenn das Wunschkind dann leider nicht als Vorzeigeobjekt dasteht. Dabei hätte es doch nur gesund, schön, klug, nett, musikalisch, sportlich, glücklich - eben perfekt werden sollen!

Sie haben ihr Zutrauen in die eigenen Instinkte verloren

Paula Diederichs muss lachen. Die Sozialpädagogin und Körpertherapeutin, selbst Mutter einer 14-Jährigen, kennt die schönen Trugbilder, die Eltern vor Augen haben. "Beschreib mir doch mal, wie dein Kind so sein sollte", ermuntert sie die Mütter, die zu ihr kommen, weil sie mit ihrem Baby nicht weiterwissen. "Dann zählen sie auf: ,Es soll lächeln, ordentlich trinken, hübsch sein, pflegeleicht, zufrieden, es soll durchschlafen ...' Ich hör mir das an und frage dagegen: ,Sag mal, glaubst du wirklich, dass Kinder so sind? Ist das das normale Leben?' Und dann lachen sie selber, weil ihnen zum ersten Mal aufgeht, was sie da für ein werbungsmäßiges Bild mit sich herumtragen."

Erfahrung und Gelassenheit strahlt die 44-Jährige aus, die Augen ruhen prüfend auf ihrem Gegenüber, sie kann zuhören, sehr geduldig. Seit sechs Jahren leitet Diederichs die Schreibaby-Ambulanz, ein Angebot des Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrums auf dem Gelände der Berliner Ufa-Fabrik. "Emotionelle Erste Hilfe für Eltern und Babys in Krisensituationen" heißt der umständliche Untertitel: Es geht nicht nur um Kleinstkinder, die besonders heftig schreien und unter Schlafstörungen leiden, sondern generell um Hilfe in Lebenssituationen, an denen junge Eltern verzweifeln.

Davon gibt es viele, wie Diederichs' Beispiele aus der Praxis zeigen: von der Mutter eines Einjährigen, die erneut schwanger wurde, zwei Abtreibungstermine dann doch nicht wahrnahm, aber deren Partner sich mit dem zweiten Kind nicht abfinden kann; von der angehenden Zahnärztin, die sich vorgestellt hatte, ihre Doktorarbeit zu schreiben, während der Säugling friedlich auf dem Balkon schläft ... Paula Diederichs schildert solche Fallgeschichten ohne den besserwisserischen Unterton, den manche professionelle Berater nie ablegen können.
"Der wär hier auch völlig daneben", sagt sie. Mit Ratschlägen voll gestopft kämen die meisten ohnehin, das sei ja Teil des Problems: "Sie haben auch deshalb nichts mehr im Griff, weil sie jegliches Zutrauen in ihre eigenen mütterlichen und väterlichen Instinkte und Fähigkeiten verloren haben."

Etwa die junge Psychologin. Während der Schwangerschaft, so schilderte Frau A. mit einigem Stolz, habe sie noch einmal die ganze Entwicklungspsychologie durchgearbeitet! Sie zeigte sich bestens informiert über alle Erkenntnisse der modernen Säuglingsforschung, wusste genau, was wichtig und gut für ihr Kind war, ist und sein wird - theoretisch. In der Praxis aber hatte ihre Tochter von Anfang an große Schlafprobleme und wurde nachts bis zu 20-mal wach. Die enorme Enttäuschung über sich und ihr Baby, zu dem sie keinen wirklichen Kontakt fand, stand Frau A. ins Gesicht geschrieben. "Dieser wahnsinnige Perfektionismus", sagt Diederichs, "und dann das Leiden an der riesigen Kluft zwischen Wunschvorstellung und Wirklichkeit - so was seh ich hier schon sehr oft."

Offenbar leben wir in einer Gesellschaft, die den ideellen Stellenwert von Kindern in bis dahin nicht gekannte Höhen hebt; die sie mitunter gar zu Erlösern aus der Oberflächlichkeit des bisherigen Lebens stilisiert. "Der Kreißsaal (oder das Geburtszimmer zu Hause) scheint wie von einem Heiligenschein umgeben, die Ankunft eines Kindes wird zur Startbahn auf einem verheißungsvollen, herrlichen Höhenflug", schreibt der Münchner Psychologe Lothar Schon. Doch diese "allgemeine Glorifizierung von Elternschaft", fürchtet er, sorge für Glückserwartungen, die vor allem in den ersten schwierigen Monaten mit Kind nicht eingelöst werden könnten.
Wenn zum Beispiel der junge Vater abends nach Hause kommt und feststellt, dass seine Frau noch immer im Schlafanzug herumläuft. Natürlich hat sie nicht eingekauft, wie sollte sie auch bei diesem Kind, das sich nicht aus der Hand legen lässt. Natürlich ist die Wohnung nicht aufgeräumt, und sie ist auch nicht dazu gekommen, etwas zu kochen. Stattdessen drückt sie dem hungrigen, müden Vater den Säugling in den Arm, um endlich zu tun, was sie morgens schon gern getan hätte - duschen. Den Mangel an realistischen Darstellungen des Übergangs zur Elternschaft hält Schon für eine Art "unterlassene Hilfeleistung". Enttäuschung, Wut und schlechtes Gewissen wenn sich das verheißene Glücksgefühl nicht oder nur zeitweise einstellen mag, seien die Folge.

Das Kind: Ob man es als Heilsbringer idealisiert oder zum Sündenbock stempelt, man drängt es beide Male in eine Rolle, die ihm nicht zukommt. Eine besonders subtile Form von Kinderfeindlichkeit. Denn sie verhindert, dass Eltern ihr Baby und seine Bedürfnisse erst einmal wahrnehmen, ohne gleich etwas von ihm zu wollen; sie lädt jungen Müttern und Vätern Lasten auf die schwankenden Schultern, Lasten, die sie mitunter kaum tragen können. Ohnehin verändert der Dritte im Bunde ihr Erleben tiefgreifender als alles, was ihnen bisher geschehen ist.

Also entscheiden sich viele Paare, um sich dem übergroßen Erwartungsdruck von vornherein zu entziehen, gleich ganz gegen den eigenen Nachwuchs. Oder sie schieben die Entscheidung immer weiter hinaus. Von den heute 30-Jährigen wird aller Voraussicht nach rund ein Drittel kinderlos bleiben. Die anderen, zumindest die potenziellen Mittelstandseltern, arbeiten oft jahrelang an einer inneren Checkliste: Habe ich den richtigen Partner? Passt Nachwuchs jetzt in die Berufsbiografie oder steht erst noch ein Karriereschritt an - bei wem? Der Frau? Dem Mann? Ist die Wohnung groß genug oder besser für eine Katze geeignet? Liegt sie kinderfreundlich, oder sollte man vor der Zeugung schon ins Grüne umziehen? Und gibt es dort gute Kindergärten, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel in der Nähe? Alle Voraussetzungen für den Nestbau optimal zu gestalten gilt als erste Elternpflicht.

Ratschläge von der Expertin für Schreibabys

Doch schon an diesem Punkt droht die Enttäuschung, wenn das Wunschkind sich trotz bester Bedingungen nicht einstellen will. Eine bittere Erkenntnis, immer schon - aber heute, in Zeiten der Reproduktionsmedizin, scheint ein solches Schicksal ja vermeidbar. So sitzen die betroffenen Paare scharenweise in den Kinderwunschsprechstunde der Kliniken, um der Natur abzutrotzen, was die bislang verweigerte. Oder sie machen sich mithilfe von Psychologen auf die Suche nach den seelischen oder mentalen Hemmnissen: Bei etwa 15 Prozent der Paare mit unerfülltem Kinderwunsch lassen sich keine biologischen Hindernisse als Ursache ausmachen, die man in vitro einfach überbrücken könnte. "Ich will ein Kind haben, und sollte es ein Igel sein", fleht der Bauer im Grimmschen Märchen Hans mein Igel; freilich hatten er und seine Bäuerin nicht damit gerechnet, dass ihnen anstelle des ersehnten Hoferben tatsächlich ein Stacheltier beschert wird. Entsprechend schwer tun sich die beiden damit, das
Igelkind zu nehmen, wie es ist.

Montag, kurz vor 18 Uhr. Eine stattliche Prozession von Paaren steigt die Treppen hoch, Hand in Hand, Arm in Arm oder wenigstens dicht beieinander: Info-Abend für Schwangere im Krankenhaus Hamburg-Barmbek. Im holzgetäfelten Saal, zweiter Stock, finden sich rund 50 Personen ein, davon 3 Frauen ohne männliche Begleitung - sie fallen auf. Aus den Augenwinkeln sieht man einander forschend an und prüfend auf die Bäuche, umfasst zärtlich den Partner, wartet, flüstert. Dann tritt auf: der Arzt. Ein hoch gewachsener jungenhafter Mensch in Jeans, hellblauem Hemd und Weste. Mühelos füllt seine Stimme den Raum. Wie ein geduldiger Lehrer steht er vor der Klasse der Schwangeren. Die lauscht demütig den Mahnungen des Mediziners: "Ganz wichtig sind die regelmäßigen Untersuchungen bei Ihrem Frauenarzt." Er sagt Sätze wie: "Ich will keine Panik machen, aber solche Störungen während der Schwangerschaft sollte man ernst nehmen." Er spricht von Beckenendlage, von Prostaglandin-Gel und Peridural-Anästhesie. "Wir wollen schöne normale Geburten erleben", wünscht er sich dann und blickt in die Runde, als mache er von nun an jeden Einzelnen hier im Saal für dieses hohe Ziel
verantwortlich. Noch Fragen?

In den Gesichtern seiner Zuhörer steht gespannte Aufmerksamkeit geschrieben, Besorgnis, auch Angst. "Können wir das Kind denn nach vier bis fünf Tagen schon mit nach Hause nehmen, also ich meine, nach einer ganz normalen Geburt?", fragt ein werdender Vater unsicher, er ist nicht älter als Ende 20. - "Ja klar, sogar schon früher, das nehmen Sie mit! Wir werden doch nicht Ihre Arbeit machen", scherzt der Arzt. Die Paare kichern. Dann kommt die Hebamme mit zupackendem Charme und bittet zur Besichtigung hinüber in den Kreißsaal.

Viele Paare besuchen im Verlauf der Schwangerschaft, oft schon im dritten oder vierten Monat, mehrere solcher Info-Abende in verschiedenen Kliniken. Sie lassen sich je nach individueller Gefühlslage vom professionellen Sicherheitsdenken der Ärzte verunsichern oder vom nicht minder professionellen Optimismus der Hebammen beruhigen. Oder sie schwanken zwischen beidem, wie die meisten. Nach Geburtsvorbereitungskurs, nach dem Studium der einschlägigen Ratgeberliteratur, nach Schwangerenschwimmen und ungezählten Gesprächen mit vermeintlich Erfahrenen, die noch eine Liste weiterer Buchempfehlungen parat haben, schreiten die werdenden Eltern dann bestens informiert, gleichermaßen voller Vorfreude und Panik, zur Geburt, natürlich gemeinsam. Und schon die verläuft oft weniger sanft als erträumt. Vielleicht auch deshalb, weil die zu fest gefügten Erwartungen für  Anspannung und nicht für Entspannung sorgen. Unwissenheit erzeugt oft Angst. Aber eine Flut von
Informationen schützt manchmal auch nicht davor.

Paula Diederichs, die Schreibaby-Expertin, malt das Bild weiter aus. Fortgeschrittenes Wissen, sagt sie, habe für die Frau eine Licht- und eine Schattenseite. Einerseits stehe ihr bei medizinischen Komplikationen vor, während oder nach der Geburt heute ein fast perfektes Hilfssystem zur Verfügung. Andererseits aber kümmere sich niemand um die psychosomatischen Folgen der unsensiblen Weitergabe medizinischer oder anderer Halbinformationen.
Stress, Angst und Unsicherheit jedoch könnten durchaus selbst zur Ursache von Problemen schon in der Schwangerschaft werden.

Dabei ist das Lernenwollen, das sich möglichst eingehend Vorbereitenwollen an sich nicht falsch. Schwierig wird es nur, wenn das gesammelte Wissen dazu führt, unvermeidliche Wunschvorstellungen, die jeder hat, zu Dogmen zu erhöhen und daraus realitätsferne Ansprüche abzuleiten: an sich selbst, den Partner und das Kind.

Gerade die von Berufs wegen besonders gut Informierten, etwa Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen, Ärztinnen, Journalistinnen oder Psychologinnen wie Frau A., die sich vor der Geburt ihrer Tochter noch einmal in die Entwicklungspsychologie vertiefte, sind gefährdet. Sie geraten erst recht in das "Fahrwasser eines übermenschlichen Muttermythos", hat Diederichs beobachtet. Eigentlich müssten sie alle Theorie beiseite schieben und erst einmal staunen über das einzigartige Wesen, das da in der Wiege liegt. Stattdessen quälen sie sich, gewohnt, jedes Problem über den Verstand zu lösen, schnell mit Selbstzweifeln, wenn ihr Baby nicht in jeder Hinsicht der angelernten und verinnerlichten Norm entspricht.

Die heiteren Visionen verblassen im Licht der Wirklichkeit

So ein Punkt findet sich fast immer, und die ehemals heiteren, optimistischen Visionen zärtlicher Mutterschaft verblassen im Licht der Wirklichkeit. Zumal die Oma, der Arzt, die Schwester, die Schwägerin, die Freundin sich gern zu einer Art Verunsicherungskartell verbünden: Das Baby wird nach Bedarf gestillt? Oje, das Kleine hat schon wieder Hunger - da muss doch mal langsam Rhythmus rein! Hast du auch genug Milch? Es bekommt alle vier Stunden das Fläschchen. Also, die Muttermilch soll ja Allergien viel besser vorbeugen. Nimmst du es denn liebevoll an die Brust beim Trinken? Es wird in Baumwolle und Wolle gewickelt. Papierwindeln sind doch viel hygienischer. Es pinkelt in Pampers. Pass bloß auf, die Überhitzung der Hoden in diesem Plastik kann Jungs später unfruchtbar machen. Es schreit und wird tröstend auf den Arm genommen. Wenn du das Kind gleich so verwöhnst, rächt sich das später. Es liegt wach und friedlich im Bettchen. Och mein Kleines, keiner bietet dir Anregungen! Weißt du eigentlich, dass sich in den ersten Monaten schon die ganzen Gehirnzellen ausprägen und vernetzen?

So kommt das Karussell der Schuldgefühle in Gang, zumindest im mütterlichen Kopf, der sich für pädagogische worst case-Szenarien aller Art (und bis die Kinder groß sind) noch immer anfälliger zeigt als der väterliche. Selten läuft die Umstellung auf das Leben mit Säugling so reibungslos, dass die Mutter ins Karussell gar nicht erst einsteigt. Aber so manche wird darin schwindlig. Hält sich fest an diesem Konzept, dann an jenem (du musst aber wirklich konsequenter sein!), klammert sich, wenn gar nichts mehr hilft, an verhaltenstherapeutische Programme, wie sie der Bestseller Jedes Kind kann schlafen lernen empfiehlt. Und steht schließlich, nach einem tränenreichen Streit mit dem Vater, der die ganze Strategie ohnehin verrückt fand, um so verzweifelter am Bettchen: Ausgerechnet ihr kleiner Sohn oder die Tochter will das Schlafen, trotz Behandlung nach Kochrezept, nicht lernen! (Wer hat euch
denn diese Durchschlafbibel empfohlen?)

"Solche Muster sind typisch", glaubt Paula Diederichs. Babys und Kleinkinder brauchten kein Bücherwissen, sondern "emotionalen Halt und Geborgenheit, ein Gegenüber, das sie anschaut und hält". Wenn das fehlt oder von innerer Anspannung überdeckt wird, könne eine Reaktion darauf das "Herausschreien dieses Unwohlseins" sein: stundenlang, tagsüber, nachts, fast pausenlos.

Aber was ist zuerst da - das Ei oder die Henne? Wie gibt man einem Baby emotionalen Halt, wenn die eigenen Gefühle Achterbahn fahren? Wenn sie schwanken zwischen Liebe, Wut, Hass, Zärtlichkeit, schlechtem Gewissen und Angst? Den Grund für die Krise findet man nicht immer heraus; vielleicht stehen im Hintergrund eine als traumatisch erlebte Geburt, Konflikte mit dem Partner oder mit der eigenen Mutter, dem Vater, die in der emotionalen Ausnahmesituation nach einer Geburt plötzlich übermächtig werden. Oder die Ursache liegt beim Kind, weil es auf den hohen Stresspegel in einer Umwelt wie der unseren extrem reagiert, schnell überreizt ist und jedes liebende Elternpaar an die Grenzen seiner Kraft getrieben hätte. "Aber da in der Psyche zu wühlen, sehe ich gar nicht als meine Aufgabe", sagt Diederichs. Wenn sich ein Kind nicht beruhigen lasse, dauere es keine zwei Wochen, bis auch Mutter und Vater mit den Nerven am Ende seien. "Das bedingt sich ja gegenseitig. Irgendwann hat man dann ein massives Entspannungsproblem auf beiden Seiten, das möglichst schnell gelöst werden muss." Denn je größer die Erschöpfung wächst, desto gründlicher schwindet der letzte Rest an elterlichem Selbstvertrauen.

Sabine Jahnsen* gehört zu jenem Typ Frau, den man gern mit dem Wort patent beschreibt. Sie wirkt fröhlich, lebhaft, voller Energie, ein Mensch, gewohnt, den Alltag zu meistern. Wenn die 39-Jährige beredt und nicht ohne Selbstironie ihre Geschichte erzählt, spricht sie von ihren "zwei Leben": dem früheren in einer Kleinstadt der DDR, aus der sie stammt, wo sie als Krankenschwester arbeitete und mit ihrem ersten Mann zwei Söhne bekam; und dem zweiten, das 1987 in West-Berlin begann.

Dorthin war sie ihrem jetzigen Ehemann Michael, Architekt, Denkmalpfleger und ihre "große Liebe", mit den Kindern Jens und Christof gefolgt. Dort auch ließ sie sich an der Hochschule der Künste zur Spiel- und Theaterpädagogin ausbilden, arbeitete in dem neuen Beruf sieben Jahre lang und begann 1997 zusätzlich ein Studium der Sozialpädagogik, das jetzt kurz vor dem Abschluss steht. Der "Kulturschock" im Westen, die Ehe, die heranwachsenden Söhne, mehrere Berufe nach- und zeitweise nebeneinander, ein Auslandsaufenthalt an einem Theater in London - all das ließ sich offenbar nicht nur unter einen Hut bringen, sondern ergab ein erfülltes Leben, wie es sich Sabine immer gewünscht hatte.

Also warum nicht, nach 13 Jahren Familiendasein mit Michael, doch noch das ersehnte gemeinsame Kind? Am 14. April 2000 kam Anton zur Welt, "hier im Wohnzimmer": zwei Wochen nachdem die Jahnsens vom Wedding in die geräumige Altbauwohnung am Prenzlauer Berg umgezogen waren, und zwei Tage nachdem die hochschwangere, angehende Sozialpädagogin ihre Diplomarbeit abgegeben hatte. Das passte gut.

Es ist halb neun am Abend, von nebenan aus dem Schlafzimmer hört man den eineinhalbjährigen Anton schreien, er will nicht einschlafen, aber es dauert nicht lang, dann ist Ruhe. Kein Vergleich mehr zu den ersten Monaten, als der Kleine gerade mal eine Dreiviertelstunde am Stück schlief und ständig unruhig war. "Das ging so weit, dass ich nicht mehr wusste: ,Warum hab ich dieses Kind gewollt?'", erzählt Sabine, und in ihrer Stimme schwingt noch die Verzweiflung, in die sie solche Gedanken gestürzt haben. "Die Angst, was falsch zu machen, war so groß, weil die Liebe so tief war", sagt sie heute.

Als "vollkommen anders" habe sie das Kinderkriegen in ihrem zweiten Leben empfunden, gar nicht wie damals in der DDR mit ihren inzwischen erwachsenen Söhnen. "Jetzt waren da plötzlich 1000 Entscheidungen zu treffen: Klinik oder nicht? Welche Babyklamotten? Ein Fell? Welcher Brei kommt infrage? Dann diese kleine Seele, die da liegt und schreit, die musste doch zufrieden sein und glücklich, das hatte ich doch alles gelernt! Und meine Angst, hier in der Wohnung angebunden zu sein, alle vergessen mich, ich krieg mein Studium nicht mehr hin, finde keinen Job wieder, bin unattraktiv für meinen Mann - all diese Ängste zusammen und in konzentrierter Form: Ich habe nur noch geheult und stand total neben mir. Das war die Situation, als ich bei der Schreibaby-Ambulanz anrief." Und dann plagte Sabine Jahnsen das Gefühl, sie habe eigentlich kein Recht, um Hilfe zu bitten, so eine Beratung sei eher was für diejenigen, denen es "wirklich schlecht geht".

Am Morgen nach dem Telefonat waren diese Zweifel vergessen. Sie saß in dem mit Matten und Kissen
ausgelegten Raum Paula Diederichs gegenüber. Die nahm ihr Baby auf den Arm und sagte: "Sabine, du bist ja total erschöpft. Leg dich erst mal hin, versuch, dich zu entspannen, erzähl, was los ist." So ähnlich muss es gewesen sein; genauer erinnert sich Sabine Jahnsen an das erlösende Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der verstand, warum sie nicht strahlte vor Glück. Dem sie von der "wunderschönen Hausgeburt" erzählen konnte, die dann doch, weil die Nachgeburt nicht kam, mit einer "Horrornacht in der Charité" endete. Von all den Plänen, Träumen, Vorstellungen. Von Michaels Hilflosigkeit ihren Tränen gegenüber. Und von Anton, dem heiß Geliebten. Der alles über den Haufen warf und sie morgens, wenn ihr Mann zur Arbeit ging, zur Verzweiflung trieb.

Es mag unspektakulär klingen, wie Paula Diederichs erschöpften Müttern hilft. Sie lässt sie reden, ist bemüht, jedes therapeutische Vokabular zu vermeiden, sorgt mit Massagen und Atemtechniken für Entspannung. Doch genau das scheint zu wirken, wie eine Evaluationsstudie der Freien Universität Berlin anhand von sechs ausführlichen Fallschilderungen vor kurzem erwiesen hat. Und als im vergangenen Jahr die Existenz der Schreibaby-Ambulanz gefährdet war, weil der Senat die Fördermittel streichen wollte, hagelte es empörte Briefe von Müttern, die ihre Beratung dort - bis zu zehnmal eine bis eineinhalb Stunden lang - wie die letzte Rettung empfunden hatten. Als "akute Krisenintervention", auch um Kindesmisshandlungen vorzubeugen, ist das Projekt definiert und kostet die Hilfe Suchenden 20 Mark pro Sitzung.

Tatsächlich reichten oft schon ein paar Termine, um die Situation deutlich zu bessern, sagt Paula Diederichs. "Es geht darum, den Eltern die Augen zu öffnen für ihr Kind, die Mütter zu bemuttern und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Sie verabschieden sich dann langsam von überzogenen Phantasien und kommen von diesem kopflastigen Kontrolltrip runter. Die inneren Ressourcen kann man wecken! Die sind immer da, bei jedem."

Schwieriges Beziehungsdreieck Vater - Mutter - Kind

Im vergangenen Sommer war Paula Diederichs als Referentin nach Hamburg geladen, zur Eröffnungsveranstaltung von "Dreiklang". Das ist eine private Einrichtung, die "Beratung und Therapie rund um Schwangerschaft, Geburt und Kindheit" anbietet, ins Leben gerufen von einem Psychotherapeuten, einer Soziologin und einer Sonderpädagogin. Da stand Diederichs auf dem Podium und zeigte mithilfe eines Schals im Arm, wie sie ein schreiendes Baby hält, das sich streckt und steif macht; wie sie mit ihm spricht, seine Anspannung durch eigene Entspannung vorsichtig zu lösen versucht. So plastisch und eindringlich führte sie das vor, dass die rund 200 Zuhörer erschrocken auffuhren, als sie gegen Ende das Schal-Baby achtlos übers Pult warf. Ganz fasziniert hatten ihr interessierte Eltern, Hebammen, Erzieherinnen, Kinderärzte zugesehen und zu vielem, was sie schilderte, bestätigend genickt. Ist es denn so schwierig, sich in dem Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Kind zurechtzufinden dass immer neue Hilfsinstanzen nötig sind?

"Es tauchen schon eine Menge Klippen auf", sagt eine der Gründerinnen von Dreiklang; wäre es anders, käme es nicht so oft zu Trennungen unter jungen Eltern. Ihre Stichworte klingen vertraut, auch sie spricht von einem "weit verbreiteten Machbarkeitsglauben", von "lähmendem Perfektionismus" und der dringend nötigen "Entidealisierung von Elternschaft", zu der Dreiklang beitragen wolle. An Resonanz seit dem Sommer mangelt es nicht, obwohl die Klienten, anders als in Berlin, die Beratung für 100 bis 180 Mark pro Stunde aus eigener Tasche bezahlen müssen.

"Guten Tag, guten Tag, wir klatschen uns zu, guten Tag, guten Tag, erst ich und dann du ..." Drei Mütter hocken auf dem Boden und singen. Drei nackte Säuglinge mit runden Bäuchen strampeln inmitten einer Fläche aus weichen, blauen Plastikmatten. So sieht eine Idylle aus. Der Raum ist gut geheizt, an den weißen Wänden eine Ballettstange, in der Ecke griffbereit Bälle und Reifen. Sieben Monate alt sind die Babys, sie glucksen, sie krähen, sie genießen ihre Windelfreiheit. Schnell ein Handtuch! Lilly und Luisa haben synchron gepinkelt, und Lilly kriecht durch ihre Pfütze zielstrebig auf Luisa zu.

Förderunterricht für Ungeborene im Mutterleib

Was sich hier immer wieder feucht und heute besonders friedlich abspielt - zwei Gruppenmütter fehlen - nennt sich PEKiP, das Prager-Eltern-Kind-Programm. Es ist ein Konzept der Eltern-Kind-Gruppenarbeit fürs erste Lebensjahr und verbreitet sich mit Mundpropaganda in förderungsbewussten Jungfamilien-Kreisen. Einmal wöchentlich finden sich bis zu acht Mütter (selten Väter) und ihre Säuglinge im Beisein einer speziell ausgebildeten PEKiP-Gruppenleiterin zusammen; für zehn Treffen zahlen sie 200 Mark. Das Ziel: Kinder im Alter bis zu einem Jahr durch "Bewegungs-, Sinnes- und Spielanregungen in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu fördern". So steht es im Konzept, das auf den Psychologen Jaroslav Koch am Prager Institut für Mutter und Kind zurückgeht. Die Sinnes- und Spielanregungen liegen locker verteilt in der Runde. Ein großer grüner Luftballon mit Klingel. Flaschenverschlüsse aus blauem Gummi. Eine Feder zum Babybauchkitzeln. "Man ist mal eineinhalb Stunden nicht verantwortlich für die Animation", sagt Manja, 34 Jahre alt und Mutter von Janto, dem Sportstar der Gruppe. Flott vorwärts robbend wie ein Soldat in der Grundausbildung, hat er sich über sieben Matten zum großen Wandspiegel vorgekämpft. Jetzt schaukelt er schon minutenlang, begeistert über sein Ebenbild, auf allen vieren.

Für die Babys und vor allem für ihre nebenbei plaudernden Mütter ("Wann soll man denn mit 'ner Tasse
anfangen?") ist das wöchentliche PEKiP-Treffen willkommene Abwechslung. "Das macht total Spaß und ist Inspiration für zu Hause", sagt Karolin, mit 29 die Jüngste in der Gruppe. Erzieherin Regina Wiegard rät bei Still-, Schlaf- und sonstigen Problemen - wenn sie gefragt wird. Lieber hält sich die Leiterin mit Worten zurück. "Vielen fehlt heute einfach ein Vorbild", sagt sie, "wie man mit Babys reden, spielen, wie man auf sie eingehen kann." Das will sie geben, ganz praktisch und "handlungsorientiert" - das neue Zauberwort der Pädagogen. Auch wenn es immer mal wieder Unzufriedene gibt, die sich mehr Theorie erhofft hatten fürs Geld. Es hängt sehr von der jeweiligen Gruppenleiterin ab, ob dieser Gemeinschafts-Zeitvertreib mit Säugling den Müttern wirklich hilft, ihren eigenen Weg zu finden, oder ob das Ganze sie im Gegenteil tiefer hineintreibt in den eifersüchtigen Leistungsvergleich nach dem Motto: Was? Deiner robbt schon? "Meine Klientinnen gehen aus diesen Gruppen oft frustriert wieder raus", sagt Paula Diederichs, "weil ihnen das noch zusätzlich Stress macht."

Der Grad zwischen sinnvoller, früher Förderung und einem Eltern wie Kinder überfordernden Leistungsdruck bleibt schmal. Und bisweilen setzt der Ehrgeiz schon im Mutterleib an. In den Vereinigten Staaten soll es, so berichtete Geo vor wenigen Monaten, bereits Bildungseinrichtungen für Ungeborene geben, etwa die Prenatal University in Kalifornien: Dort leuchten Schwangere mit der Halogenlampe zwei-, drei-, viermal auf ihren Bauch und sagen durch eine den Schall verstärkende Sprechtüte die Worte two lights (three, four) dazu - um dem Fötus in seinem Fruchtwasser das Zählen beizubringen.

Der Amerikaner John T. Bruer gehört zu den profiliertesten Kritikern derart enthusiasmierten Glaubens an frühkindliche Förderung. In seinem Land wurden regelrechte Kampagnen für die Bildung der bis zu Dreijährigen geführt - gern begründet mit angeblich fundierten Erkenntnissen über die früh abgeschlossene Vernetzung des Gehirns. In dem Buch Der Mythos der ersten drei Jahre setzt sich Bruer gründlich mit dem Stand der Neurowissenschaften in Bezug auf die Entwicklung menschlichen Fühlens und Denkens auseinander und bietet - ausnahmsweise - viel Entlastendes für elterliche Köpfe. Nie sollten wir vergessen, schreibt der Wissenschaftsjournalist, dass "Menschen äußerst anpassungsfähig sind und dass unsere Kinder über eine bemerkenswerte Widerstandskraft verfügen". Normale Entwicklung finde in einem breiten Spektrum von Umwelten und Bedingungen statt.

Oder, wie es der Neurowissenschaftler Steve Petersen von der Washington University in St. Louis ganz
unwissenschaftlich formulierte: "Es müssen schon äußerst elende Bedingungen sein, um die Entwicklung ernsthaft zu stören. (...) Was heißt das für uns? Ziehen Sie Ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen sie es nicht verhungern und schlagen Sie es nicht mit einer Bratpfanne auf den Kopf."

   * Namen von der Redaktion geändert

© 2001 Iris Mainka

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