21. Dezember 2001
Weihnachten der anderen Art VIII

Bald
Jock Rhymer

Bald ist es soweit. Vor 10 Monaten war Muammar wenigstens kurz aus dem Arrest freigekommen. Natürlich hatte sie sich darüber gefreut, natürlich war sie ihm gleich zu Willen gewesen. Es war schließlich ihre Pflicht als Ehefrau, ihrem Mann seinen Willen zu lassen. Es hatte ihr ja auch Spaß gemacht. Dass sie genau zu diesem Moment empfängnisbereit war, wusste sie. Aber sie nahm es in Kauf, da sie viel zu erfreut war über seine Freilassung. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er gleich wieder festgenommen wird. Und sie konnte erst recht nicht ahnen, dass dieser Arrest so lange geht, dass sie die kommenden Tage, Wochen und Monate alleine sein würde. Ihre ganze Familie wurde im Gazastreifen festgehalten, die Telefone wurden sowieso in dem Moment von den Besatzern gekappt, in dem sie von den internationalen Helfern verbunden wurden. Wenigstens hatte sie ein Dach über dem Kopf. Weshalb sollte sie sich also grämen?

Sie wusste natürlich, dass vor 2000 Jahren eine Frau in Palästina in einer ähnlichen Situation gewesen war. Allerdings hatte diese einen Mann an ihrer Seite, den es nicht einmal störte, dass das erwartete Kind nicht von ihm war. Auf der anderen Seite hatte sie keine Bleibe, kein eigenes Dach über dem Kopf. Es konnte nur ein Stall gefunden werden.

Ihr stand heute wenigstens ein Krankenhaus des roten Halbmonds zur Verfügung, in das sie für die Entbindung gehen konnte. Dort hatte sie ihre Hebamme getroffen, mit ihr hatte sie die ganze Vorbereitung für die Geburt durchgesprochen. Aber das Wichtigste fehlte eben doch: Muammar. Was hätte sie alles gegeben, um ihn jetzt an ihrer Seite zu haben. Aber die Besatzer ließen niemanden mehr frei. Nicht, seit die Selbstmordattentate wieder begonnen hatten. Doch wie sonst konnte man sich in einem Krieg wehren, in dem man selbst keine Waffen zur Verfügung hatte? Die Auseinandersetzung wird von der UNO ja nur deshalb nicht als Krieg bezeichnet, weil die Palästinenser keine schweren Waffen zur Verfügung haben. Und das angeblich autonome Gebiet war ja nichts anderes als ein besetztes Gebiet. Also genau dasselbe wie vor 2000 Jahren. Auch damals lebte die Bevölkerung Palästinas geknechtet durch eine fremde Macht im eigenen Land, musste jeder genau das machen, was die Besatzung verlangte.

Konnte sie aus dieser vergleichbaren Situation etwa Hoffnung schöpfen? Hatte sich in den letzten 2000 Jahren etwa irgend etwas geändert? Vor einigen Jahren hätte sie noch jeden unterstützt, der den Nahen Osten auf dem Weg der Besserung sah. Aber seit dem Tod von Menachem Begin ging alles den üblichen Weg: Die Falken kamen an die Macht, die Friedensliebenden wurden unterdrückt, die Ultrakonservativen erstarkten und konnten ihre Siedlungen weiter ausbauen. Auf der anderen Seite wurden die Palästinenser noch mehr unterdrückt, noch mehr gegängelt.

Aber jetzt hoffte sie auf einen Änderung. Nicht, dass sie ihrem Kind den Nimbus des Erlösers wünschte, aber die Welt war in letzter Zeit aufgewacht, und sie hoffte, dass für ihr Volk dabei auch die Aufmerksamkeit übrig blieb, die notwendig war um zu überleben. Nicht nur Afghanistan sollte von den Anstrengungen der westlichen Welt profitieren, sie hoffte inniglich, dass auch ihr Volk eines Tages in einer Position sei, in der es selbst seinen weiteren Weg bestimmen könnte, ohne Einfluss aus dem Westen, ohne die erdrückenden Thesen der Islamisten. Einfach frei, selbstbestimmt, ohne Krieg und Intifada. Sie wusste mit Sicherheit, dass ihr Kind nicht Osama heißen würde, nicht Omar, Yassir oder Muhammad. Denn das würde die Gedanken immer wieder zu denen lenken, die an großen Teilen der Probleme mit Schuld waren, die heute herrschten.

Sie hatte noch zwei Wochen, um einen Vornamen auszuwählen. Sie wusste, dass ihr in dieser Zeit etwas Passendes einfallen würde. Und zur Not blieb immer noch der Name, den die Mutter vor 2000 Jahren ihrem Kind gegeben hatte.

© 2001 Jock Rhymer

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