11. Dezember 2001
Weihnachten der anderen Art IV
 

Nicht nur ein Wintermärchen
                            Birgit Oldenburg

Neulich lief ich durch einen tiefverschneiten Tannenwald. Kein Tupfen Grün war mehr zu sehen - nur ruhiges schneeweiß.
Meine Tränenspuren gefroren schnell. Ich hatte geweint um Menschen, die ich nicht kannte: Um Erdbebenopfer, Flugzeugabsturzopfer, Explosionsopfer und Vergiftungsopfer. Um den Unfalltod eines Kindes in meiner Heimatstadt und um die Hinterbliebenen, die viel Schmerz ertragen mussten. Erinnerte mich an mein eigenes Schicksal und an die Momente, in denen ich selbst am Rande des Todes gestanden hatte. Weinte wegen meinem Leid und dem Alleinsein damit.

Tief in diesen Gefühlen versunken stapfte ich durch die hohe Schneedecke. Niemand kann mir meine Bürde abnehmen. Niemand kann - stellvertretend für mich – LEBEN !!!
Und während ich mit in den Taschen vergrabenen Händen und rot gefrorener Nase weiterging, bildete sich plötzlich vor mir eine Wand aus Schneeflocken, die sich in abertausend irisierende, kristallene Lichter verwandelte und eine Fülle von Farben verbreitete.
Wie verzaubert ging ich auf die wunderschöne Wand zu.
Die Luft wirkte wie ein Spiegel, in dem sich das helle Geflimmer unzählige Male brach. Nichts davon tat den Augen weh. Alles war von einer ergreifenden Schönheit, die sanft vom  Schnee reflektiert wurde.
Als ich die ersten Lichter erreichte, füllten und umhüllten sie mich mit Ruhe und wohliger Wärme -  geleiteten mich behutsam zu dem Luft-Spiegel. Je näher ich kam, desto größer erschien ich mir. Dann löste ich mich auf in meiner Größe und war:
I m  S p i  e g e l !  Mein Körper wurde zu L i c h t...
Schemenhafte Wesen tanzten um mich herum und vermischten sich mit meiner Energie.
„Wir sind Engel und verstehen dich gut – auch wir haben viele Schmerzen durchleben müssen“, hörte ich ihre Stimmen.
„Wer schon einmal im Himmel war, kommt auf der Erde nicht mehr zurecht.“ Ein Gebilde aus goldviolettem Schein schwebte durch mich hindurch.
Wie Balsam floss ihr Verständnis in meine Seele und ich spürte eine große Sehnsucht. Wie unendlich ich so etwas vermisst hatte... Die ganze Last des Lebens fiel auf einmal von mir ab. Ich fühlte mich ganz leicht und gleichzeitig angefüllt mit Liebe.
„Deine Zeit ist  jetzt  noch nicht gekommen! Du musst wieder zurück, weil du  noch eine Aufgabe zu erfüllen hast  - vollbringe sie!“
Langsam löste der Luft-Spiegel sich auf. Die Lichter verblassten nach und nach, bis nur noch das winterliche Blau des Himmels zu sehen war.
Durcheinander und orientierungslos stand ich wieder mitten in der Realität. Wie sollte es weitergehen? Zunächst spürte ich große Trauer und fühlte mich noch einsamer als zuvor. Dann überwältigte mich auf einmal eine ungeheure Lebenslust:
Ich musste nach Hause und herausfinden, was ich vollbringen sollte!

Auf dem Rückweg begegnete mir eine alte, verwahrloste Frau. Mühsam zog sie einen kleinen Handkarren durch den Schnee, auf dem ein paar Plastiktüten verstaut waren. Sie war mit einem leichten Sommermantel viel zu dünn angezogen. Als wir auf gleicher Höhe waren, sah ich die blasse Resignation ihrer Augen.
„Hallo, ganz schön kalt,“ sagte ich.
„Sie frieren bestimmt nicht!“ sagte sie mit einem Blick auf meine warme Kleidung. Spontan zog ich meinen gefütterten Mantel aus, ebenso die dicke Strickweste, die ich darunter trug und gab ihr die Jacke. Die Alte stutzte zuerst ein wenig, riss sie dann aber aus meinen Händen und zog sie unter ihren Sommermantel an.
„Sie sehen aus, als ob Ihnen gerade der Herrgott begegnet sei.“ Die Alte verzog, ein wenig außer Atem, ihre blauen Lippen.
„Ja – vielleicht...“
„Ich hatte auch mal gedacht, mein Herr ginge immer neben mir. Aber Er hat mich verlassen. Schauen Sie nur die Fußspuren an: Früher waren es noch zwei!“ Sie zeigte zurück. „Und jetzt? Weit und breit nur eine Spur – oder sehen Sie noch weitere?“ Sie antwortete sich selbst. „Nein, nein – Er ist nicht mehr bei mir...“ Ihre Stimme wurde zu einem müden Flüstern.
Auf einmal fielen mir ein paar Zeilen ein, die mich vor einiger Zeit getröstet hatten: „Ach, liebe Frau - Er hat Sie nie verlassen. Sie können nur eine Spur sehen, weil Er Sie die ganze Zeit getragen hat!“

Ganz still stand sie nach diesen Worten, wagte kaum zu atmen. Dann rollte langsam eine einzelne Träne aus ihren Augen. Sie blinzelte, seufzte ganz tief und griff nach ihrem Handkarren. Ob ich sie erreicht hatte?
„Wollen Sie nicht mit mir kommen? Ich habe auch niemanden, mit dem ich Weihnachten verbringen kann.“ Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.
 „Nein“, sagte sie. „Meine Aufgabe ist erfüllt. Und ihre auch. - Fast“, fügte sie leise hinzu. „Frohe Weihnachten.“ Hinter ihrem verschleierten Blick sah ich einen kleinen Funken aufleuchten.

Sie ging dahin, wo ich hergekommen war. Meine Fußspuren waren schon längst vom zuvor gefallenen Schnee zugedeckt. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien. Langsam und nachdenklich ging ich in Richtung Stadt. Als ich mich noch einmal umdrehte, war die Frau verschwunden. Nur eine lange Spur Fußabdrücke war zu sehen.
 Ich zwinkerte mehrmals mit den Augen, denn einen Moment traute ich ihnen nicht. Doch das Bild blieb:
 Im losen Schnee waren  z w e i  Paar Spuren.

© Birgit Oldenburg

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Biobibliographie
Geboren 1955 in Witten an der Ruhr. Aufgewachsen als Älteste von insgesamt fünf Kindern in einer Arbeiterfamilie. Den damaligen Beruf  „Bürokauffrau“ hatte der Vater ausgesucht - sie selbst wollte Schriftstellerin oder Erzieherin werden (zuerst setzte der Vater sich durch – später die Tochter).
In der Schule bereits Märchen geschrieben, die besondere Beachtung fanden. In der städtischen Bücherei ab dem sechsten Lebensjahr als Leseratte bekannt gewesen.
Während und nach schweren Krankheiten und Lebenskrisen entdeckte und lebte sie ihr kreatives Potential:
Ab 1986 schrieb sie wieder Märchen und Lyrik - erfuhr erste positive Presseresonanzen.
Dreijähriges Schriftsteller-Studium in Hamburg.

Textdiebe - die erste Anthologie
Textdiebe-Verlag, München, 2000, ISBN 3-935376-10-4, Preis 16,90 DM (mit der Kurzgeschichte Wendepunkte)

Warten auf eine Taube,
Jubiläumsherausgabe des Wittener Autorentreffs, 2000, ISBN: 3-8311-0158-2, Preis 15,90 DM (mit den Kurzgeschichten Wettereinbrüche und Schwanengesang)

Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichtes
Ausgewählte Werke - Realis-Verlag, München, je 129,--DM (mit den Gedichten:
Bd. II -   Seelenbefreiung, Bd. III -  Fingerspitzengefühl, Bd. IV -  Dämmerstunde)

Tränen – Eine Anthologie
Herausgegeben von Cornelia Eichner, Geest-Verlag (Lyrik, Prosa, Essays, Grafiken u. Fotografien; Mitwirkende aus Deutschland, Österreich, Niederlande und Schweiz). 2000, ISBN 3-934852-42-4, Preis 18,40 DM
(mit der Kurzgeschichte Schattendasein)

„Angsthasen“ Hrsg. Cornelia Eichner, Ine´s Jaccobie. Grafiken von Marion Hallbauer
(mit der Kurzgeschichte „Kein Ammenmärchen“)
ISBN 3-934852-70-X, 19,80 DM.
Geest-Verlag, Ahlhorn (2001)

Weitere Veröffentlichungen in Zeitschriften, Broschüren und im Internet.
Teilnahme an verschiedenen Literatur-Projekten.
Arbeitet an einem Roman-Manuskript.
Zahlreiche Lesungen. Radio-Interviews.
Schreibt über alles, was zum Leben und Sterben gehört.

Weitere künstlerische Aktivitäten:
Ausbildung „Experimentelles Improvisations- und Bewegungstheater“ in Düsseldorf (bei Paul Hänel). Theatermitglied beim dortigen „Impuls-Theater“ gewesen. Auftritte. Selbst einige Workshops gegeben.
Chorgesang: Bachchor, Gospelchor, Musikschulchor.
Fortbildungen in Stimmbildung (Alistair Thompson, Faith Poulsten, Annette Espe, Ernst W. Klar).
Ölmalerei (autodidaktisch).

...und sonst noch:
Selbsteinschätzung: „Ich bin bunt!“
Leitsatz: Einen gesunden Baum erkennt man nicht am Aussehen, sondern an den Früchten, die er hervorbringt...
Besonderes Interessen: Philosophie, Psychologie, Theologie, Natur - und Fußball.
 

In eigener Sache:
Im Monat Dezember hat der laotische Salon ein Thema: "Weihnachten der anderen Art".
Bekannte und unbekannte Autoren, habe ich dazu eingeladen, einen anderen Blick auf Weihnachten zu werfen.
Gerne nehme ich auch jetzt noch Texte zu diesem Thema an.
Texte bitte an: duerkop@laonet.net  oder  ilona.duerkop@laostagebuch.net